Am Ende großer Kriege gab es stets Versuche, der Welt eine neue, stabile und friedenssichernde Ordnung zu geben. Der Westfälische Friede war die Antwort auf den Dreißigjährigen Krieg, der Wiener Kongress ordnete Europa nach den Napoleonischen Kriegen neu. In den Pariser Vororten wurden 1919 die machtpolitischen Konsequenzen aus den Ergebnissen des Ersten Weltkriegs gezogen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs sah keine große Friedenskonferenz zur Neuordnung der Welt nach der Niederringung der faschistischen Mächte. Eine Friedenskonferenz wurde zwar andiskutiert, die Gegensätze zwischen den Siegermächten machten ein solches Vorhaben aber bald obsolet. Der Krieg war ja auch dramatisch anders zu Ende gegangen als die früheren großen weltpolitischen Auseinandersetzungen. Benito Mussolini war am 28. April 1945 erschossen worden, und am nächsten Tag hing sein Körper kopfüber vom Dach einer Tankstelle. Nur einen Tag später verteilte Adolf Hitler im Führerbunker in Berlin Giftampullen an Eva Braun und an seine Getreuen. Er selbst erschoss sich. In der Nacht vom 8. zum 9. Mai unterzeichnete Wilhelm Keitel für das Oberkommando des deutschen Heeres die Kapitulationsurkunde, nachdem tags zuvor Generaloberst Alfred Jodl schon in Reims eine Kapitulation unterschrieben hatte – die Sowjets bestanden aber auf einer eigenen Zeremonie.
Es gab nichts zu verhandeln
Die deutsche Armee war vollständig aufgerieben, amerikanische und sowjetische Soldaten gaben sich an der Elbe die Hand. Diese Auslöschung aller von Deutschland kontrollierten Territorien ließ auch eine neuerliche Legendenbildung, wie sie 1918 erfolgt war („Im Felde unbesiegt“, „Dolchstoß“), nicht zu. Und als die amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden waren, da war es klar: Es gab praktisch nichts zu verhandeln, die Verlierer hatten keine Angebote mehr zu unterbreiten. Die Neuordnung der Welt lag also zur Gänze in den Händen der Siegermächte.
Dabei kündete sich schon vor dem Kriegsende jener Konflikt an, der in den Folgejahrzehnten die Weltpolitik bestimmen sollte. Zwei diametral entgegengesetzte Vorstellungen von Politik prallten dabei aufeinander. Dem Westen, also den US-Amerikanern, den Briten und den Franzosen, ging es um eine Wiedererrichtung einer Welt des Freihandels mit Staaten, die im Wesentlichen liberale Demokratien sein sollten, unter der politischen und ökonomischen Kontrolle der USA. Der Sowjetunion ging es um die Einbindung eines größtmöglichen Territoriums unter der Führung Moskaus, um die Errichtung einer Ordnung, die den Vorstellungen Stalins von der Dominanz einer Partei und der Ausschaltung jeglicher Opposition entsprach, auch mit den Mitteln von Terror, Verfolgung und Vernichtung. Der Zugewinn ökonomisch gut entwickelter Gebiete, vor allem in Europa, sollte die sowjetische Wirtschaft stützen und die Macht des Stalinismus festigen.
Deutschland konnte in Jalta keine Milde erwarten
Vom 4. bis zum 11. Februar 1945 trafen in Jalta auf der Halbinsel Krim die Staatschefs der Alliierten, Franklin D. Roosevelt für die USA, Winston Churchill für Großbritannien und Josef Stalin für die UdSSR zu jenem Treffen zusammen, das die Nachkriegsordnung entscheidend prägen sollte. Eine gute Woche zuvor hatten sowjetische Truppen das Konzentrationslager von Auschwitz befreit, und damit war der gesamte Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft der Weltöffentlichkeit in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden. Nichts konnte mehr kleingeredet werden, die Bilder der Leichenberge und der ausgemergelten Überlebenden hatten alle im Kopf. Das nationalsozialistische Deutschland hatte daher keine Milde zu erwarten. Alles, was man vorher von den Vernichtungslagern gewusst haben mag, wurde von der nun sichtbaren Realität übertroffen.
Es ging daher um die Aufteilung Deutschlands, um die Verschiebung des wieder zu errichtenden polnischen Staates nach Westen, um die Neuordnung Südosteuropas und letztlich um die Aufteilung von Einflussbereichen, vor allem am Balkan. Die Sowjetunion verpflichtete sich, nach der Kapitulation Deutschlands in den Krieg der USA gegen Japan einzutreten. Schon Monate vor der Konferenz in Jalta, bei einem Treffen im Oktober 1944 in Moskau, hatten sich Stalin und Churchill auf Einflussgebiete geeinigt. Auf einem kleinen Zettel vermerkten sie: „Rumänien: Sowjetunion 90 Prozent – die anderen 10 Prozent. Griechenland: Großbritannien 90 Prozent – Sowjetunion 10 Prozent. Jugoslawien: 50 Prozent – 50 Prozent. Ungarn: 50 Prozent – 50 Prozent. Bulgarien: Sowjetunion 75 Prozent – die anderen 25 Prozent.“
Aufteilung hielt der Realität nicht stand
Das war der Beginn der Aufteilung der Welt, eine vorläufige Aufstellung, die von der Realität eingeholt werden sollte, schmerzhaft für alle Betroffenen. Europa sah sodann große Vertreibungswellen, vor allem die deutschsprachige Bevölkerung in den nunmehr zum „Osten“ zählenden Gebieten zahlte ihren Preis für die vorangegangenen Schrecken des Nationalsozialismus, unabhängig davon, ob man sich mitschuldig gemacht hatte oder nicht.
Überall, wo der Zweite Weltkrieg durch ein Vor- oder Zurückrollen der Frontverläufe auch die Zivilbevölkerung unmittelbar in die Kriegsgeschehnisse involvierte, spielten sich, vor allem in den letzten Kriegsjahren, ungeheure Grausamkeiten ab. Nirgendwo aber erreichten sie jenes Ausmaß, von dem das östliche Mitteleuropa geprägt war. Timothy Snyder, Historiker an der Universität Yale, nennt diesen geografischen Raum daher auch „Bloodlands“. Dort ging es nicht um Kollateralschäden, denen die Bevölkerung ausgesetzt war, denn dort wurden Vernichtungsfantasien in die Realität umgesetzt.
Krieg gegen das eigene Volk
Der Holocaust brachte Millionen Jüdinnen und Juden den Tod, aber auch der stalinistische Terror wütete, nicht nur, aber vor allem in der Ukraine und in Weißrussland. In dieser Weltregion wurde nicht nur Krieg gegen den militärischen Kontrahenten geführt, sondern auch die jeweils eigene Zivilbevölkerung. Hier unterschied sich der Zweite Weltkrieg ganz dramatisch von dem ohnehin schon großen Schrecken des Ersten Weltkriegs. Und der Schrecken war mit dem Jahr 1945 noch lange nicht zu Ende.
Helmut Konrad