Immer wieder stehe ich am offenen Grab derer, die mich bereits zu ihren Lebzeiten darum gebeten haben, sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Es ist sozusagen der heilige Rest meiner priesterlichen Tätigkeit, seit ich vor 22 Jahren auf das Amt eines katholischen Seelsorgers verzichtet habe.
Zu den kostbarsten Erfahrungen dabei zählen vorher an Sterbebetten geführte Gespräche. Nie verstehe ich besser als bei solchen Gelegenheiten, warum wir Menschen einen Mund zum Sprechen, aber zwei Ohren zum Zuhören haben.
Bei einem dieser Besuche im Sommer 2011 sagt mir mit letzter Kraft die aus dem Koma erwachte Gittli: "Arnold, mich holt gerade der Teufel!" – "Aber Gittli, das ist unmöglich!", antworte ich ihr: "Du bist ein Himmelskind!" Sie lächelt mich an und schläft wieder ein. Zwei Tage später schließt sie für immer ihre Augen.
Der Wert und die Kostbarkeit eines Menschen sind mir nie deutlicher bewusst als im Augenblick seines Todes. Nie weiß ich besser als durch sein Sterben, was er für mein Leben bedeutet. Alles, was ich vorher darüber zu wissen meinte, verblasst, alles, was ich jetzt darüber zu sagen versuche, lässt mich verstummen.
Wer bei solcher Gelegenheit nach passenden Worten sucht, sollte um Himmels und der Menschen willen kein Internet oder andere Ratgeber befragen; am ehesten findet er, was er braucht, in seiner persönlichen Geschichte mit dem/der Verstorbenen; nur so werden in Beileidsworten auch "Beistand" und Mitgefühl hörbar; denn eine Grabrede ist keine "einleuchtende" Argumentation und ein Wort der Anteilnahme kein Versuch, den Tod zu begreifen; immer geht es dabei zuallererst um persönliches Ergriffensein und die Kunst, etwas davon ins Wort zu bringen.
Seit gut einem Vierteljahrhundert analysiert der führende Zukunftsforscher der Schweiz, Georges T. Roos, die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Wandels. Als Philosoph lässt er sich dabei weder von Hypes noch von apokalyptischen Bildern verführen; vielmehr zeigt er auf, wie der menschliche Unternehmensgeist immer wieder – auch was unser soziales Miteinander betrifft – Fortschrittssprünge hervorbringen kann.
Im Blick auf den Tod allerdings spricht er wenig ermutigend von der Angst, dass durch diesen "unser Fest der Unsterblichkeit auf Zeit" gehörig infrage gestellt wird. Als Reaktion darauf versuchen wir, uns den Tod durch Abwehr, Verdrängung und Maskierung vom Leib zu halten. Der englische Soziologe und Anthropologe Geoffrey Gorer hat in diesem Zusammenhang bereits in den 1950er-Jahren von der "Pornografie des Todes" gesprochen hat und damit gemeint, dass nur mehr solche Todesfälle eine Chance hätten, öffentlich Aufsehen zu erregen, wenn sie als Sensation in die Langeweile der Nachrichtenlandschaft Abwechslung bringen. Gorer ist überzeugt davon, dass der Tod zum großen Tabu für das 20. Jahrhundert geworden war und damit den Sex als das große Tabu für das 19. Jahrhundert abgelöst hat.
Das 20. Jahrhundert hat dann den Kindern die Frage, woher die Kinder kommen, bis zur Unerträglichkeit deutlich beantwortet, die Frage aber, wohin die Menschen gehen, wenn sie sterben, bis weit in unser Jahrhundert herein unbeantwortet gelassen. In diesem Zusammenhang ist mir eine Erinnerung kostbar, die ich in meiner Zeit als Pfarrer von Klein St. Paul in Kärnten meiner Ministrantin Belinda verdanke. Nach der Abendmesse bittet sie mich, sie an das Sterbebett ihres Opas zu begleiten. Dort angekommen, wollte sie mich aber mit ihrem Opa allein lassen. Schlussendlich steht dann doch die ganze Familie am Sterbebett des seit Tagen im Koma liegenden Großvaters. Beim "Vater unser" bewegt er plötzlich seine Lippen und betet mit. Und nach dem Beten haucht er für uns alle hörbar sein Leben aus. Die achtjährige Belinda schaut mich an und sagt dann: "Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dem Sterben!"
Solange wir den Tod als etwas betrachten, das außerhalb von uns stattfindet, werden wir weder ihm noch uns selbst gerecht. Der Tod bringt nämlich nicht nur das Leben eines Menschen auf den Punkt, sondern auch den Reichtum seiner Beziehungen. Deshalb glauben Hinterbliebene im Angesicht des Todes eines von ihnen geliebten Menschen selbst sterben zu müssen. Und deshalb tragen sie mit ihren Liebsten immer auch ein Stück ihres eigenen Lebens zu Grabe.
Mascha Kaléko, die vielleicht liebenswürdigste Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, schreibt dazu in ihrem Gedicht "Memento" (1944):
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben,
wenn sie nicht mehr da sind?
Den eigenen Tod, den stirbt
man nur,
doch mit dem Tod der andern / muss man leben.
Erfahrungen von Sterben und Tod wurden schon in der griechischen Antike als Lebensschule verstanden, als "ars moriendi", als die Kunst, das Leben als Vorbereitung auf den eigenen Tod zu begreifen. Wer also vom Tod redet, muss gleichzeitig auch vom Leben reden und wer vom Leben redet, muss darin auch den Tod mitdenken. Kein Text konnte mir bisher diese Verschränkung tiefer zum Ausdruck bringen als ein Gedicht von Reiner Kunze, in dem der Liebende seiner Geliebten den Tod "um ein weniges früher" wünscht, damit ihr der Schmerz des Abschieds erspart bleiben möge:
"Bittgedanke, dir zu Füßen
Stirb früher als ich, um ein weniges früher
Damit nicht du
den weg zum haus
allein zurückgehn musst.
Wenn Alexander Mitscherlich bereits vor einem halben Jahrhundert unserer Gesellschaft "die Unfähigkeit zu trauern" diagnostiziert hat, hat er ihr damit gleichzeitig auch eine erschreckende Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit attestiert. Einer Gesellschaft, die nicht trauern kann, fehlt es an Kostbarsten und Wertvollsten, das sie in allen ihren Bereichen dringend braucht, um lebendig und sinnstiftend zu bleiben: Liebe, Einfühlungsvermögen und Fantasie.
Eine Meisterleistung solcher Fantasie habe ich vor Jahrzehnten am Alten Friedhof von Roermond in den Niederlanden entdeckt. Dort befindet sich an der Friedhofsmauer das Grab von Josephina van Aefferden (+1888) und auf der spiegelbildlich anderen Seite der Mauer das ihres acht Jahre früher verstorbenen Mannes Jacob van Gorkum. Weil die Frau Katholikin ist, er aber Protestant, konnten sie nicht auf dem gleichen Friedhof bestattet werden. Also kauft sie nach seinem Tod ein Grab an der Friedhofsmauer und bestattet ihn dort. Ihre Kinder halten sich dann nach ihrem eigenen Ableben an ihren Wunsch und kaufen auf der anderen Seite der Mauer die Fläche für das Grab der Mutter. Allen konfessionellen Widrigkeiten zum Trotz gestalten sie die beiden Gräber so, dass die Grabsteine die Friedhofmauer überragen und durch zwei ineinandergelegte Hände verbinden.
Seit 134 Jahren bezeugen die beiden Grabsteine in Roermond, dass die Fantasie der Liebe stärker ist und bleibt als alle Konventionen, gesellschaftliche Normen und religiöse Vorschriften. Liebe macht erfinderisch! Liebe allein hat die Kraft, die uns über Gräber und Mauern hinaus hoffen lässt.
Arnold Mettnitzer