Fast auf den Tag genau vor 30 Jahren passierte etwas höchst Unerwartetes. Mein Vater kam nach Hause, in der Hand ein Kuvert. Er öffnete es und legte wortlos den Inhalt auf den Küchentisch. Einen, zwei, drei, vier, fünf Geldscheine. Druckfrische Fünftausender, insgesamt 25.000 Schilling. Nie zuvor hatte ich diese riesigen Wolfgang-Amadeus-Mozart-Banknoten gesehen, und auch danach kaum je mehr. Aus dem Kuvert zog mein Vater noch ein einzelnes Blatt, und las: "Lieber Hans, mach Deinen Kindern mit dem Geld ein schönes Weihnachtsgeschenk." Das Schreiben endete mit einem Gruß, aber ohne Namen. Von wem das Geschenk stammte, sollten wir erst viel später erfahren.
Wenige Monate zuvor war meine Mutter an Krebs gestorben. Ich war zehn Jahre alt, meine Schwester 16. Dass unsere Mutter sterben würde, war mir in gewisser Weise klar gewesen – ich erlebte die Vorstellung aber eher wie ein trauriges Märchen. In meinen Gedanken betrachtete ich als Zuschauer einen kleinen Buben, der seine Mutter für immer verlieren würde. Dass ich selbst dieser Bub sein würde, wurde mir erst bewusst, als sie tatsächlich tot war. Eine unfassbare Einsamkeit brach über mich herein.
Willkommene Ablenkung
Als Geschenk von dem Geld bekam ich einen nagelneuen PC, dazu organisierte ich mir kopierte Computerspiele. Viele, viele Stunden vor dem Bildschirm folgten. Sie waren, wenn schon kein echter Trost, eine willkommene und dringend benötigte Ablenkung von meiner Situation und finsteren Gedanken.
Als ich viel später über Umwege erfuhr, dass es Werner Zuber war, von dem der Brief und das Geld stammten, war ich bereits erwachsen. Vor dem inneren Auge erschien das fröhliche Gesicht des Mannes, den ich beim Essen mit meiner Familie in seinem Gasthaus immer wieder gesehen hatte. Ich nahm mir vor, mich persönlich zu bedanken, schob das Vorhaben aber immer wieder vor mir her, bis es zu spät war. Werner starb im Jahr 2016.
Was mich an Werner und seiner Tat so beeindruckt, ist weniger der riesige Geldbetrag, den er für uns geopfert hat. Was mich bis heute so berührt, ist die Geste der wahrhaftigen Anteilnahme an unserer Trauer. Ich wusste, da draußen ist jemand, dem unser Leid nicht egal ist. Ich wusste, wir sind nicht allein.
Das haben uns auch andere Menschen spüren lassen, mit kleineren Gesten. Wenige Wochen später, zu Silvester, waren mein Vater und ich gemeinsam mit den Spielberger Naturfreunden auf einer Wanderung auf den Steinplan unterwegs. Wir stapften im Dunkeln durch den Schnee, als plötzlich jemand sagte: "Das war ein Scheißjahr!" Die gesamte Gruppe stimmte zu. Mir war bewusst, dass nicht jeder in der Runde ein schlechtes Jahr gehabt haben konnte und begriff, dass die Bemerkung an meinen Vater und mich gerichtet war, als Zeichen der Solidarität. Ich weiß noch, wie mir in diesem Moment das Herz aufging, und meine Einsamkeit für einen Moment lang verflogen war. Es gab da jemanden, der mitfühlte, sich in uns hineinversetzte. Es hat geholfen.
Frust, Wut, Trauer und Einsamkeit
Die folgenden Jahre sollten sehr schwierig werden, voller Frust, Wut, Trauer und Einsamkeit. Doch immer gab es Menschen auch abseits meiner Familie, die für mich da waren, in deren Zuhause ich willkommen war, und die mir immer wieder eine zweite Chance gaben.
Das Schicksal hätte auch einen anderen Lauf nehmen können: Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich kurze, aber innige Freundschaften mit zwei Burschen, die in einer ähnlichen Situation waren wie ich. Einer hatte seinen Vater verloren, der andere seine Mutter. Sie beide leben heute nicht mehr, weil sie – davon bin ich überzeugt – mit ihrem Trauma nicht mehr leben konnten. Ich bin heute glücklich und gesund, mit einem tollen Beruf, einer wunderbaren Familie und vielen guten Freunden. Selbstverständlich ist das nicht. Möglich gemacht haben es Menschen, die sich mir zugewandt haben.
"Werner Zuber hatte ein großes Herz"
Der Tod ist ein unvergleichlich schwerwiegendes Ereignis. Vielleicht wissen viele Menschen deshalb gar nicht, wie sie jemandem in angemessener Weise beistehen sollen, der eine Mutter, einen Vater, oder ein Kind verloren hat. Werner Zuber hatte ein großes Herz, er hat einen großen Geldbetrag gegeben, und dafür bin ich auch 30 Jahre später dankbar. Doch auch kleinere Zeichen des Mitgefühls können große Wirkung entfalten. Hauptsache, niemand bleibt in dunkelster Stunde allein.
*Hannes Auer, 40, aufgewachsen in Spielberg, ist ORF-Journalist in Wien
Hannes Auer*