Bis heute ist das Foto im Netz auffindbar, das Wolfgang Kern in der wohl schlimmsten Stunde seines Lebens zeigt. Darauf zu sehen ist er, wie er mit seiner Hand in einer Vorschubwalze steckt. Der Unfall im Jänner 2011 sollte sein Leben maßgeblich verändern. Angefangen hatte der Tag aber mit einem ganz anderen Foto.
"Es war ein superschöner Wintertag", erinnert sich der Linzer zurück. Das dokumentierte er mit einem Bild, das er auf Facebook stellte. Auf dem Weg zur Arbeit traf er noch auf seinen Vater. Kurz nach Mittag begann dann seine Schicht bei einem oberösterreichischen Stahlbetrieb. "Zunächst passte alles. Nach meiner Pause um 16 Uhr hieß es dann, dass wir ein neues Produkt haben, das eingespannt werden muss." Dafür musste die Vorschubwalze gereinigt werden. "Das passierte damals noch per Hand", erzählt Kern.
Die Sicherheitsvorkehrungen wurden eingeleitet, die Maschine auf "manuell" gestellt und schon machte sich Kern an die Arbeit. "Als junger Mensch macht man sich noch wenig Gedanken über Risiken, man fühlt sich unverwundbar", sagt Kern, der damals 20 Jahre alt war. Bis heute erinnert er sich daran, wie plötzlich die Walze zuging. Wie in Zeitlupe, aber schnell genug, dass er sich nicht mehr retten konnte: "Mein Gummihandschuh verfing sich und die Walze zog meine Hand ein." Trotz dieser Situation bewahrte Kern einen kühlen Kopf, schrie zu seinem Kollegen, er müsse die Maschine stoppen, wies ihn an, seine Hand mit dessen Gürtel abzubinden.
Das Foto in der Zeitung
Die Rettungskräfte waren binnen zehn Minuten zur Stelle, doch Kern sollte eine ganze Stunde so verharren – seine rechte Hand in der Walze eingeklemmt. Weil man ihn vor weiteren Verletzungen nicht einfach so rausziehen konnte, musste die Feuerwehr die Maschine auseinandernehmen. Während dieses Einsatzes entstand auch das Foto, das ein großes, österreichisches Medium später veröffentlichen würde. Das war etwas, das ihn später irritieren und seinen Vater verärgern sollte. "Grundsätzlich war es für mich nicht schlecht, dass das Foto existiert, weil es mir beim Verarbeiten des Unfalls half. Aber es zu veröffentlichen war unnötig, weil man zwar mein Gesicht nicht sah – aber jeder, der mich kannte, wusste, dass ich das bin."
Doch von all dem bekam Kern zu dem Zeitpunkt, als er in der Maschine eingeklemmt war, noch nichts mit. "Es war sicher nicht die schönste Stunde meines Lebens, aber die Sanitäter waren supernett und haben mit mir gequatscht", sagt der heute 33-Jährige. Schmerzen hatte er zu dem Zeitpunkt keine – zunächst wegen des Adrenalins, später dank der Schmerzmittel. Auf der Trage liegend gab Kern der Polizei noch die Nummer seiner Mutter - sein Notfallkontakt. Bei dem, was danach passierte – die Fahrt ins Krankenhaus, die Notoperation, die Überstellung in die Intensivstation – war er nicht mehr bei Bewusstsein. Die nächsten sechs Wochen sollte Kern im Krankenhaus verbringen.
Zehen statt Finger
Heute sind auf Kerns rechter Hand da, wo einmal fünf Finger waren, zwei seiner Zehen. Die Haut des Handrückens stammt von seinem Oberschenkel, die der Handfläche von seiner Fußsohle. Und auch wenn es anfangs gewöhnungsbedürftig war, inzwischen kann er greifen, Schuhe zubinden, Besteck verwenden, Dinge aufheben oder kurz gesagt: seinem Alltag nachgehen. Es ist das Ergebnis mehrerer komplizierter Eingriffe und harten Trainings. Das ganze erste Jahr lang konnte er seine rechte Hand nicht verwenden, weil sie fast durchgehend bandagiert war. Im Juni und September nach seinem Unfall folgten die Zehen-Transplantationen. Bis das Gefühl in seine ehemaligen Zehen, nun Finger zurückkehrte, sollte ein weiteres Jahr vergehen. Hinzu kamen Phantomschmerzen: "Da hatte ich oft das Gefühl, dass meine Finger verkrampfen, obwohl sie gar nicht da waren. Oder, dass mein Zeh juckt, aber ich konnte ihn nicht kratzen, weil er ja auch nicht mehr an meinem Fuß war, sondern an meiner Hand."
Eine Zeit lang war er nach seinem Unfall noch im selben Unternehmen beschäftigt. "Aber in einem Büro, gut zehn Meter von der Walze entfernt", sagt Kern. Nachdem er zunächst einen Bachelor und später einen Master absolvierte, machte er sich in den Bereichen Medien, Web und Design selbstständig. "Ich hatte schon immer eine Affinität zu Bewegtbildern", sagt Kern. Mit seinem Unternehmen produziert er etwa Imagefilme für Firmen. Auch privat fertigt er gerne Videos an. 2021, also zehn Jahre nach dem Unglück, setzte er sich selbst vor die Kamera, um seine Geschichte zu erzählen - und so auch zu verarbeiten. "Da zu sitzen und zehn Minuten über sich selbst zu reden, das mag zwar komisch wirken. Aber ich habe das nicht gemacht, um dadurch vielleicht viele Klicks zu bekommen. Viel mehr ging es mir darum zu reflektieren und vielleicht sogar anderen dadurch zu helfen." Denn vom Unfall blieben nicht nur Narben auf seiner rechten Hand - auch psychisch hat das Erlebte Spuren hinterlassen. Ein Thema, das viel zu oft verschwiegen wird.
Keine Entschädigung
Eine Entschädigung bekam er übrigens nicht. Kern selbst sagt, dass er sich an die Sicherheitsprotokolle gehalten hat. Die Anwälte des Unternehmens pochten dennoch darauf, dass er selbst die Schuld trug. "Der Gerichtsprozess hat sich fünf bis sechs Jahre lang gezogen. Irgendwann war das Bedürfnis da, einen Schlussstrich zu ziehen." Vor Gericht zu gewinnen, wäre zwar nett gewesen, sagt Kern, doch seine Finger hätte er dadurch auch nicht zurückbekommen. Der Schlussstrich half ihm auch dabei, vieles aufzuarbeiten. "Das, was ich erlebt habe, war eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Tod. Erst Jahre später kam raus, dass ich dadurch eine Angststörung entwickelt habe."
Tatsächlich gab es eine Phase, in der Kern sein Leben nur eingeschränkt führen konnte; in der er sich zurückzog. Krankenhäuser waren lange ein Trigger. "Mittlerweile habe ich es aber gut unter Kontrolle", so der Unternehmer. Wichtig sei es, sich langsam, aber gezielt seinen Ängsten zu stellen – und auch darüber zu sprechen, um das Stigma rund um psychische Gesundheit zu brechen. Aus dem gleichen Grund beantwortete er vor Kurzem im Rahmen eines AMAs (Ask me Anything, zu Deutsch: Fragt mich alles) die Fragen der Nutzerinnen und Nutzer der Internetplattform Reddit.
Lange Zeit versteckte er seine Hand unter einer Socke. "Aber das hat dann erst recht Blicke auf die Hand gezogen, vor allem im Sommer", sagt Kern lachend. Seine Frau Danielle – er hat sie bei Auslandsaufenthalten in den USA kennengelernt – half ihm dabei, den Unfall zu verarbeiten und die Hand so zu akzeptieren und herzuzeigen, wie sie ist.
Kerns Unfall hat ihn zwar geprägt, aber er definiert ihn nicht. Heute weiß er: "Den meisten Menschen fällt meine Hand gar nicht auf." Und wenn doch, dann spricht er offen über die Hintergrundgeschichte. Apropos sprechen: Seine Frau und er betreiben auch einen Podcast, in dem sie verschiedenste Dinge thematisieren: mentale Gesundheit, Filme und einfach das Leben generell. Seine Freizeit verbringt das Paar gerne in der Natur, wo auch Hund Bean – "Wenn er größer wird, heißt er dann Mr. Bean" – nicht fehlen darf.
Inzwischen ist Kerns Unfall schon mehr als zwölf Jahre her. Den genauen Tag, an dem er passiert ist, könnte er spontan gar nicht nennen – ein gutes Zeichen, wie er selbst sagt. Und das Unfall-Foto mag zwar noch im Netz kursieren, doch das Internet wurde in der Zwischenzeit um viele weitere Aufnahmen, glücklichere Aufnahmen erweitert.
Claudia Mann