Der massive Felssturz in der Silvrettagruppe, der am Sonntag offenbar das südliche Fluchthorn um den halben Gipfel samt Gipfelkreuz gebracht hat, hat sich nach einer Periode einer "Rekordschmelze" der österreichischen Gletschermassen ereignet. Das ging aus dem im März erschienenen, jährlichen Gletscherbericht des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV) hervor. Der im Mai publizierte "Klimastatusbericht 2022" warnte dann vor Folgen des Gletscherschwunds in der Zukunft.
Die Schmelze und auftauende Permafrostböden führen demnach zu Steinschlägen, Felsstürzen und Murenabgängen. Der jährlich erscheinende Bericht, erstellt im Auftrag des Klima- und Energiefonds und der Bundesländer durch das Climate Change Centre Austria (CCCA) in Zusammenarbeit mit Geosphere Austria und der Boku, berichtete nicht nur darüber, dass 2022 der viertwärmste Sommer seit Beginn der Messungen im Gebirge gewesen war. Zusammen mit einer geringen Schneedecke und dafür viel Saharastaub verloren die heimischen Gletscher im Vorjahr im Mittel drei Meter Eisschicht – doppelt so viel Masse wie im Schnitt der vergangenen 30 Jahre.
"Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Gletscher in den nächsten 20 Jahren – ganz unabhängig, von welchem Szenario man ausgeht – halbieren werden. Wir können das nicht mehr verhindern", wurde Herbert Formayer, wissenschaftlicher Leiter des Berichts und Professor am Institut für Meteorologie und Klimatologie (Boku), anlässlich der Veröffentlichung des Berichts zitiert. Die Folge der Rückgänge sind eine Zunahme an Material für sogenannte gravitative Prozesse oder Massenbewegung – der Sammelbegriff für Hangrutschungen, Muren, Berg- oder Felsstürze und Gerölllawinen:
Die Bezeichnung kommt aus der Geologie, wobei das Lateinische "gravitativ" bedeutet, dass die Schwerkraft dafür sorgt, dass Material hangabwärts transportiert wird. All den – oft zerstörerischen – Ereignissen ist gemein, dass ihre Häufigkeit mit dem Klimawandel stetig zunimmt. Denn zunehmende Starkregenereignisse wie auch deren Gegenteil, die Trockenheit, sind die zwei Folgen der menschengemachten Klimakrise, die in den Bergen oder spezifisch in Österreichs alpinen Regionen zu den auslösenden Momenten zählen. Weitere Zutaten sind die Schwächung des Waldes in seiner Schutzfunktionen für Siedlungen vor Steinschlag und Co. In höheren Lagen oberhalb der Baumgrenze fehlt der Wald generell, was beim Auftauen des Permafrosts die Gefahr ebenso erhöhen kann.
"Wo sich dann die Gletscher zurückziehen, kommen meist große Schuttfelder und Moränenhänge zutage. In diesen Gebieten ist mit einer erhöhten Steinschlag- und Felssturzgefahr zu rechnen. Dies konnte bereits durch Untersuchungen am Kitzsteinhorn untermauert werden. Seit 2011 werden hier detaillierte Aufzeichnungen geführt, insgesamt wurden rund 270 Steinschlagereignisse festgestellt. Durch den aktuellen Gletscherrückgang freigelegte Felswandbereiche zeigten dabei eine rund achtmal höhere Aktivität als Felswandbereiche, die vom aktuellen Gletscherrückgang nicht beeinflusst wurden", warnte der Klimastatusbericht.
Grundsätzlich gilt laut Geologieexperten, dass in "einem geologisch jungen Hochgebirge", wie die Alpen eines sind, Massenbewegungen besonders häufig vorkommen – die Klimakrise ist also ein zusätzlicher Verstärker zu einer bereits bekannten Tatsache. Ende 2019 berichtete ein Team um Thomas Glade vom Institut für Geografie und Regionalforschung der Universität Wien über den Wissensstand zu Auswirkungen des Klimawandels. Temperaturen und ihre Entwicklungen seien gut dokumentiert – Mängel wurden jedoch unter anderem im Bereich Bodenerosion, Hangrutschungen und Muren festgestellt.