Die Entwicklung ist unerbittlich: Von Jahr zu Jahr ziehen sich die Alpengletscher weiter zurück. Doch so massiv wie zuletzt war die Schmelze seit Aufzeichnungsbeginn noch nie, wie der aktuelle Gletscherbericht des Alpenvereins zeigt. Sämtliche der 89 beobachteten Gletscher Österreichs haben im letzten Jahr an Länge verloren, im Schnitt gingen sie um 28,7 Meter zurück. Das ist der höchste Wert, den es in der 132-jährigen Messreihe jemals gegeben hat.
Der Grund für die besonders dramatische Entwicklung liegt in den meteorologischen Bedingungen des vergangenen Jahres. Der Klimawandel lässt es in den Bergen immer wärmer werden, gleichzeitig bleiben die Schneefälle aus. So waren an den drei Gebirgswetterstationen Sonnblick (Österreich), Zugspitze (Deutschland) und Säntis (Schweiz) zehn der zwölf Monate zwischen Oktober 2021 und September 2022 wärmer als im langjährigen Mittel. Der Juni 2022 brachte es sogar auf vier Grad mehr als üblich, im März 2022 fiel um 90 Prozent weniger Schnee (jeweils verglichen mit dem Mittel der Jahre 1981 bis 2010). In Summe war das Gletscherjahr um 1,4 Grad zu warm und um zwölf Prozent zu trocken. "Kurz gesagt, war es eines der ungünstigsten Jahre in der Geschichte der Gletscherforschung", sagt Andreas Kellerer-Pirklbauer, Wissenschaftler am Institut für Geografie und Raumforschung an der Uni Graz und gemeinsam mit seinem Kollegen Gerhard Karl Lieb Leiter des Gletschermessdiensts des Alpenvereins.
18 Gletscher verloren mehr als 40 Meter Länge
Die Folgen manifestieren sich in den Messwerten an den Gletschern. Der mittlere Längenverlust der österreichischen Gletscher fällt 2,6-mal stärker aus als im vorangegangenen Gletscherjahr und stellte den bisherigen Rekordwert (minus 25,2 Meter im Jahr 2016/17) in den Schatten. Am weitesten zog sich der Schlatenkees in der Venedigergruppe zurück und verlor binnen eines Jahres 89,5 Meter Länge. Ebenfalls mehr als 80 Meter Rückgang verzeichneten die Pasterze am Großglockner und der Diemferner in Ötztal massiv. Fünf weitere Gletscher verloren mehr als 60 Meter Länge, zehn weitere büßten zumindest mehr als 40 Meter ein. "Der gesamte Sommer hat die großen Gletscher ausapern lassen", sagt Lieb. Das bedeutet, dass nicht frische Schneeschichten, sondern die Eisflächen von Altbeständen abschmelzen.
Insgesamt sind 18 österreichische Gletscher um mehr als 40 Meter zurückgegangen. Die Grafik zeigt die jeweils stärksten Rückgänge in den Bundesländern.
Wie rasant die Schmelze inzwischen verläuft, lässt sich an der Pasterze ablesen. "Die Zunge hat innerhalb eines Jahres 6,4 Meter Höhe verloren", sagt Kellerer-Pirklbauer. "Das entspricht einem Verlust von 14,7 Millionen Kubikmeter Eis." Daraus ergäbe sich ein Eiswürfel mit 245 Meter Kantenlänge, also beinahe in der Höhe des Wiener Donauturms. Die Forscher gehen davon aus, dass die Hauptverbindung der Pasterze zum Eis des Großglockners innerhalb der nächsten Jahre durchtrennt wird. "Angesichts der bisherigen Entwicklungen könnte das bereits 2025 der Fall sein", sagt Kellerer-Pirklbauer.
Das Zeitraffer-Video zeigt die Schmelze des Gepatschferner (Ötztaler Alpen) innerhalb von eineinhalb Jahren (Quelle: Mergili, Haselberger: Phusicos)
Bis 2075 ist es mit den Gletschern vorbei
Insgesamt ist laut den Gletscherforschern anzunehmen, dass Österreich bis zum Jahr 2075 alle seiner Gletscher verlieren wird. Dass es dabei nicht nur um einen Verlust fürs Auge geht, unterstreicht Alpenverein-Vizepräsidentin Ingrid Hayek. "Die Gletscher werden von Jahr zu Jahr nicht nur schwieriger und gefährlicher zu begehen. Der Rückgang des Eises führt auch dazu, dass die Trockenperioden in den Tälern immer ausgeprägter werden." Das lasse die Pegel der Flüsse sinken, was unter anderem der Schifffahrt und dem Betrieb von Kraftwerken schade, sagt Hayek.
Unverständlich sei ihr, warum die Gegenmaßnahmen in Form von Klimaschutz immer noch nicht konsequent genug ergriffen werden. "Oder würden Sie weiterhin 60 Zigaretten am Tag rauchen, wenn Sie die Diagnose Lungenkrebs bekommen haben, und dann sagen: Der Fortschritt in der Medizin wird mich schon irgendwie retten?", fragt Hayek.