Die Familie einer jungen Frau, die in Österreich lebt, will unbedingt, dass sie heiratet. Die Betroffene spielt mit dem Gedanken, Ja zu sagen. Ihre Familie stellt ihr potenzielle "Anwärter" vor, der Druck auf die junge Frau steigt. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie bereits: Sie will noch gar nicht heiraten. Doch die Reaktion ihrer Verwandtschaft zeigt, dass sie so einfach aus dieser Situation nicht mehr herauskommt. "Es gibt Familien, die in der Situation die Tochter verstoßen. Andere wiederum sagen, sie werden sie suchen und finden, sollte sie weglaufen", sagt Najwa Duzdar. Sie ist Leiterin der Beratungsstelle "Orient Express"

Seit mehr als 30 Jahren arbeitet die Einrichtung mit Frauen mit Migrationshintergrund zusammen, und zwar in unterschiedlichen Bereichen. So gibt es etwa ein Lernzentrum mit Angeboten in türkischer und arabischer Sprache für bildungsbenachteiligte Frauen oder sie werden bei partnerschaftlichen Problemen unterstützt, etwa wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennen will. "Ein weiterer Schwerpunkt ist das Thema Zwangsheirat und Verwandtschaftsgewalt", sagt Duzdar.

Zwangsheiraten – in Österreich? Obwohl das Verbot von Zwangsheiraten seit 2016 im Strafgesetzbuch verankert ist, ist die Beratungsstelle "Orient Express" tagtäglich mit dem Thema konfrontiert: "Sehr oft ist es ein Symptom eines größeren Problems." Also eine Reaktion der Eltern auf die Tochter, die sich "anders" kleidet oder gegen Gendernormen wehrt. Grundsätzlich gilt: "Das Thema Zwangsheirat ist komplex, aber nicht 'exotisch'. Es passiert auch in Österreich." 

Graubereiche

Denn Verbot hin oder her – es gibt Graubereiche, wo man genauer hinschauen müsse; wo man ausführliche Gespräche führen muss, um festzustellen, ob tatsächlich ein freier Wille vorhanden war. Im Gegensatz zu einer Zwangsheirat hat die Betroffene bei einer arrangierten Ehe, die nicht strafbar ist, sehr wohl Mitspracherecht – und das Recht "Nein" zu sagen.

Doch in der Praxis sieht das oft anders aus. Wie beim eingangs erwähnten Beispiel haben Betroffene oft mehrmals die Möglichkeit, "Nein" zu "Heiratskandidaten" zu sagen. "Doch ab einem gewissen Zeitpunkt werden sie gezwungen, eine Auswahl zu treffen", sagt Duzdar. "Nach außen hin wirkt es auf den ersten Blick vielleicht aufgrund der Auswahlmöglichkeiten nicht wie eine Zwangsehe. Aber am Ende hatte sie keine Wahl." So erzählt etwa auch eine Betroffene aus Klagenfurt darüber, dass sie nicht wirklich heiraten wollte, sie aber ihrer Familie zuliebe "Ja" zur arrangierten Ehe sagte. Was folgte, waren Jahre, geprägt von Gewalt. 

Ebenfalls ein großes Thema in Österreich sind laut Duzdar nicht-standesamtliche Eheschließungen; also Zeremonien, die innerhalb der Familie vollzogen werden, aber nicht offiziell sind. "Das sind häufige Schlupflöcher, um das Verbot zu umgehen." 

Gefährliches Schubladendenken

Gut 130 Mädchen und Frauen wenden sich jährlich an die Beratungsstelle – manche kommen zu einem unverbindlichen Erstgespräch, andere suchen dringend Hilfe, um einer akuten Situation zu entkommen. Eine Frage, die von Außenstehenden gerne gestellt wird, ist jene nach Herkunft und Religion der Betroffenen. "Wir haben österreichische Staatsbürgerinnen, die sich an uns wenden. Frauen, die auch schon in 3. Generation hier leben und hier geboren und aufgewachsen sind. Andere Betroffene haben Fluchthintergrund und sind erst seit ein paar Jahren hier", sagt Duzdar, die festhält, dass Familien in solchen Situationen aus Angst des Identitätsverlustes oft konservativer werden.

Betroffene stammen etwa aus Syrien, Irak, Afghanistan, aber auch Tschetschenien und vielen osteuropäischen Ländern. Man könne aber kein Land hervorheben, denn oft ist es Mundpropaganda, die Betroffene zum "Orient Express" führt. Dass sich aus einer Community mehr Menschen an die Beratungsstelle wenden, heißt nicht pauschal, dass aus der besagten Community auch mehr Menschen betroffen sind als aus anderen Kreisen, so die Leiterin: "Schubladendenken ist gefährlich, denn es kann dazu führen, dass sich Betroffene keine Hilfe holen."

Zwangsheirat werde oft religiös begründet, "aber in Wirklichkeit hat das nicht viel mit Religion zu tun", sagt Duzdar. "Das ist ein universelles, patriarchales Problem." Betroffene werden etwa verheiratet, weil sie sich gegen Gendernormen wehren wollen, sich anders kleiden. Oft ist es eine Reaktion der Eltern auf dieses Verhalten. "Deshalb ist es wichtig, genau diese Gendernormen aufzubrechen."

Wie geht man so etwas an? "Es ist viel Präventionsarbeit notwendig, viel Aufklärung und Sensibilisierung." Der Prozess sei langfristig ausgerichtet und müsse sich nicht nur an Frauen und Mädchen richten, sondern auch an Männer und Buben.