Das Frauenbild mancher Männer verstört. Als die islamische Religionslehrerin Zeliha Çiçek beschließt, ihr Kopftuch abzulegen, wendet sich ihr 28-jähriger Sohn von ihr ab. Ein junger Mann, geboren in Wien, hat dort die Schule besucht, bricht den Kontakt mit seiner Mutter ab, weil er ihren Wunsch nach Selbstbestimmung nicht akzeptiert. Sie habe ihm als Mutter besser gefallen, als sie beim Reden auf den Boden geschaut hat, sagte er in einem ihrer letzten Gespräche. Woran liegt es, dass junge Männer, die in Österreich aufwachsen, ein solches archaisches Weltbild haben?

Zeliha Çiçek war 14 Jahre lang islamische Religionslehrerin, bis sie ihr Kopftuch ablegte
Zeliha Çiçek war 14 Jahre lang islamische Religionslehrerin, bis sie ihr Kopftuch ablegte © KLZ/Christoph Kleinsasser

Der Trend zur Retraditionalisierung ist in den Köpfen vieler Jugendlicher verankert, weiß Politikwissenschafterin Nina Scholz. Nicht selten liegen die Gründe in der Religion. "In Österreich ist der politische Islam tief verankert. Eine zentrale Rolle spielt die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ), in der auch die Millî Görüş organisiert ist und die in Österreich eigene Bildungseinrichtungen implementiert hat, alle davon in Wien. Es gibt Kindergärten, Volksschulen, eine NMS, Gymnasien und eigene Studentenwohnheime für Studierende aus dem Ausland", sagt Scholz.

Islamisch-konservative Bildungseinrichtungen

Die Millî Görüş ist nach der ATIB der größte islamische Verband in Österreich und steht unter starkem Einfluss des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der selbst aus der Millî-Görüş-Bewegung stammt "und dessen Ziel es ist, eine 'fromme Generation' zu erziehen", so die Expertin. 2021 kündigte die Regierung eine Gesetzesnovelle für das 2015 beschlossene Islamgesetz an. Der Gesetzesentwurf soll künftig mehr Transparenz bringen, weil häufig nicht ersichtlich sei, wer die Funktionsträger hinter den jeweiligen Einrichtungen und Religionsgesellschaften sind.

Wer als Islamlehrer in Österreich unterrichten darf, bestimmt die IGGÖ – "und dort verfolgt man eine klare Ideologie". In einem Beschluss des Beratungsrates, 2017, bezeichnet die IGGÖ das Kopftuch als "religiöses Gebot" und spricht sich klar für das Tragen des Kopftuches aus. "Die IGGÖ ist auch Herausgeber für das Lehrbuch für den islamischen Religionsunterricht. Über das gesamte Buch verteilt taucht immer wieder die Illustration einer jungen Frau auf, die in einer Sprechblase wichtige und lehrreiche Tipps gibt. Sie trägt ein Kopftuch strenger Art (Anm.: mit Untertuch und auf den Oberkörper herabfallendem Stoff). Ein anderes weibliches Vorbild ist in dem Buch nicht vorhanden. Es wird immer wieder über die Vielfalt des Islam gesprochen – beim Kopftuch allerdings ist es damit vorbei", betont Scholz.

Nina Scholz, Politikwissenschafterin
Nina Scholz, Politikwissenschafterin © Bilderland/Molden

Çiçek wurde wegen ihrer Entscheidung, das Kopftuch abzulegen, diskriminiert. Das habe nichts mit Religion zu tun, das ist der politische Islam, erklärte die 46-Jährige. Der Fall wird aktuell vor dem Arbeits- und Sozialgericht verhandelt. Die Lehrerin klagt die IGGÖ auf Diskriminierung und Verdienstentgang.

Erster muslimischer Frauenverein will aufklären

Gegenwind bekommt der politische Islam auch durch die neu gegründete Muslimische Frauengesellschaft in Österreich (MFGÖ). Obfrau Fatma Akay-Türker hat selbst neun Jahre als islamische Religionslehrerin gearbeitet und war langjähriges Mitglied der IGGÖ, bis zu ihrem Rücktritt und der Entscheidung, ihr Kopftuch abzulegen.

Fatma Akay-Türker Vereinsobfrau der Muslimischen Frauengesellschaft in Österreich (MFGÖ)
Fatma Akay-Türker Vereinsobfrau der Muslimischen Frauengesellschaft in Österreich (MFGÖ) © Privat

Mit dem Verein will Akay-Türker Frauen, aber vor allem Jugendliche aufklären. "Aufklärung brauchen wir in allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen. Es braucht Veränderung und Enttabuisierung. Junge Muslimas sollen wissen, dass sie ein Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit und Selbstbestimmung haben." Ein anderes Projekt, das bereits gestartet ist, ist die Online-Kampagne #KeineEinzigeSchwesterMehr vom Verein Bro & Kontra gemeinsam mit JUVIVO.21 und bOJA (bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit), gefördert vom österreichischen Zukunftsfonds. In Kurzvideos sprechen migrantische Jugendliche aus Wien über Gewalt gegen Frauen und wie sie mit traditionell geprägten Männerbildern umgehen. "Wir knüpfen dabei an die biografischen Erzählungen der Jungen und Mädchen an", sagt Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus.

Auch Akay-Türker will mit jungen Menschen über ihre Erfahrungen sprechen. Dazu sollen Jugendberatungen und Seminare stattfinden, auch Schulbesuche schließt die Vereinsobfrau nicht aus: "Wir wissen, auf uns wartet viel Arbeit, aber wir sehen uns in der Verantwortung, die Geschlechtergerechtigkeit unter Muslimen voranzutreiben."