Herr Tegetthoff, Sie sagten einmal, Sie seien der Gegenentwurf zur Welt der Bilder. In Ihrem neuen Buch verwandeln Sie Bilder von Kindern in Geschichten – ein Kompromiss?

Folke Tegetthoff: Nein, als Kompromiss würde ich das nicht sehen. Wir leben in einer völlig übervisualisierten Welt, die das Zuhören und Erzählen immer schwieriger macht. Die Fotos in meinem Buch zeigen nur einen winzig kleinen Ausschnitt aus dem Leben dieser Kinder und Jugendlichen. Ich aber wollte wissen: Was passiert abseits des Bildes? Wie sieht die Welt dieser Kinder links und rechts dieser festgehaltenen Augenblicke aus? Das Foto diente mir dabei als Ankerpunkt. Die Geschichte lebt ohnehin für sich alleine, denn ich beschreibe ja nicht das Foto, sondern lasse mich lediglich von ihm inspirieren.

Apropos „übervisualisert“: Waren Sie schon einmal auf TikTok?

Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass ich völlig Social-Media-resistent bin. Ich bin weder auf Instagram noch auf Facebook. Ich habe zwar einen Account, aber den befüllt mein Büro, ich habe nicht einmal einen Zugang. Meine Frau sagt mir immer, was gepostet wurde.

Warum?

Ich will mich damit nicht beschäftigen, weil es meinen Horizont zu sehr einschränken würde. Und ich will mich nicht von dieser Bilderwelt vereinnahmen lassen. Die wirklich wichtigen Sachen kommen auch so zu mir.

Im Buch spielen Kinder die Hauptrolle. In der realen Welt hingegen scheint ihr Platz zunehmend kleiner zu werden, und die Coronapandemie hat das Gefühl vieler Familien, Kinder seien lediglich geduldet, nicht aber erwünscht, noch mehr verstärkt. Wie sehen Sie das?

Kinder können und dürfen heute immer weniger ihre Kindheit ausleben. Sie werden immer früher eingebunden in Dinge, die an sich Erwachsenensache sind. Über Social Media wirkt die Wirtschaft mit Influencern auf Kinder ein – und zwar permanent und sehr perfide. Ich prägte schon vor 30 Jahren den Satz, dass „kein Kind freiwillig vor dem Fernseher sitzt, es ist immer nur Ersatz für Zeit, Liebe und Aufmerksamkeit“ – nichts davon ahnend, wie dramatisch sich das noch entwickeln würde.

Die Kinder in Ihren Geschichten sind stark und mutig ...

Mit dem Buch will ich die Stärke von Kindern zeigen, was wir von ihnen lernen können. Dieses Einssein mit dem Tag, diese völlige Hingabe der Kinder ist etwas, das wir mehr und mehr verlernen. Bei all unserem Handeln und Tun wird sofort eine Kosten-Nutzen-Rechnung gestellt, es wird kaum mehr etwas um seiner selbst willen getan.

Kann man das wieder lernen?

Ja, natürlich. Dieses Leben des Augenblicks hat viel mit Wahrnehmungsfähigkeit zu tun. Und das ist trainierbar. Mithilfe einer erweiterten Wahrnehmung ist es möglich, diese Augenblicke zu intensivieren. Ohne Unterlass erleben wir Momente, die für unseren Lebensweg wichtig sind. Zum Beispiel der Moment, in dem man seinen Ehepartner kennenlernt. Die meisten dieser „Extrem-Augenblicke“ sind jedoch erst in der Rückschau erkennbar. Meist wissen wir nicht, was dieser Moment einmal für eine Bedeutung haben wird. Ich trainiere das, indem ich stets davon ausgehe, dass jeder Augenblick, den ich erlebe, ein bedeutsamer sein könnte.

Das Buch ist entstanden, nachdem Sie mehrere Fotoausstellungen besucht hatten: Wo gehen Sie denn als Nächstes hin?

Ich bleibe beim Foto: Ich werde mich dem „Augenblick der Frauen“ widmen.