Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen: Was ist alles während der Pandemie bei unseren Kindern und Jugendlichen zerbrochen?
ISABEL BÖGE: Aus meiner Sicht erfolgte der Blick auf Kinder und Jugendliche viel zu spät. Man hat nicht überlegt, was es mit Kindern macht, wenn man sie sozial isoliert. Und dadurch, dass keiner gewusst hat, was als Nächstes passiert, gab es auch keine zeitliche Perspektive. Die Schulen haben sich redlich bemüht, Online-Angebote zu schaffen – viele Eltern hatten auch Angst vor Covid und haben die Kinder sehr streng zu Hause gelassen.
Die Folgen?
BÖGE: Was wir jetzt im Nachhinein sehen, ist, dass die soziale Isolation erhebliche Folgen hervorgerufen hat. Bei Jugendlichen ist es bekannt, dass sie sich vor allem am gleichaltrigen Freundeskreis orientieren – dieses ist bei Jugendlichen höher ausgeprägt als bei Kindern, welche sich noch mehr an den Eltern orientieren. Der Wechsel findet im Alter von 12, 13, 14 Jahren statt, da geht die Orientierung Richtung Gleichaltriger. Dieser Faktor fehlte in der Coronazeit für die Jugendlichen, den gab es kaum. Man hat zwar viel online gechattet, aber dieses ist aus sozialen Gesichtspunkten nicht vergleichbar. Gleichzeitig ist so der Medienkonsum deutlich nach oben gegangen.
Wie deutlich hat sich der Medienkonsum erhöht?
BÖGE: Letzte Woche habe ich auf einer fachlichen Tagung einen Vortrag gehört: Der durchschnittliche Medienkonsum hat sich verschoben. Jugendliche, die vorher drei bis vier Stunden mit Medien verbracht haben, sind nun bei fünf bis sechs Stunden täglich, andere Jugendliche, die vorher eine bis zwei Stunden mit Medien beschäftigt waren, liegen jetzt bei drei bis vier Stunden.
Und bei den jüngeren Kindern?
BÖGE: Bei den jüngeren Kindern fehlte in der Zeit das spielerische Element. Auch wenn Eltern kompensiert haben, spielen Kindern untereinander anders als mit Erwachsenen. Im ersten Moment haben wir während Covid-19 noch keine Auswirkung gesehen, es kam eher zu weniger Aufnahmen, im letzten Jahr ist das deutlich gestiegen. Wir haben einen Zuwachs von über 20 Prozent an akuten Notaufnahmen. Und das ist schon eine deutliche Zunahme.
Welche Erkrankungen haben zugenommen?
BÖGE: Wir sehen deutlich vermehrt Depressionen, Ängste, Essstörungen, Zwänge. Die aggressiven Störungen sind zurückgegangen. Wir sehen somit mehr gegen sich selbst gerichtete Aggressionen, das hat sich verdoppelt.
AIDA KULJUH: Ich sehe ganz viele sozial ängstliche Kinder. Kinder, die es verlernt haben, in Kontakt zu kommen und daraus einen Gewinn zu haben. Dieses Bedürfnis können sie nicht durch Medien oder Internet abdecken. Es bleibt ein offenes Bedürfnis, sich zu begegnen und aneinanderzuwachsen. Ich sehe viele Kinder im sozialen Rückzug, in der Schulverweigerung, in der Depression, in der Angsterkrankung. Kinder mit Lebensüberdruss sind mehr geworden, und Kinder leiden länger.
Was heißt das für unsere Gesellschaft, wenn die Zahlen so stark zugenommen haben?
BÖGE: Wenn wir langfristig dem zuschauen und nichts tun, dann haben wir irgendwann eine kippende Gesellschaftsstruktur, indem wir nicht mehr genug leistungsfähige junge Erwachsene haben, die die Gesellschaft weitertragen können. Insofern ist es dringend nötig, jetzt dagegen zu steuern. Die Kinder, Jugendlichen und Eltern suchen auch nach Hilfe, sie nehmen Angebote an, das merken wir bei neuen Projekten. Jedes neue Angebot wird derzeit überflutet. Je mehr erreichbare Anlaufstellen entstehen und je schneller Kinder und Jugendliche so in die Therapie kommen, desto besser.
Könnten Sie das bitte im Detail erläutern?
BÖGE: Wir haben z. B. derzeit in der Steiermark bei Kindern mit Autismusverdacht, die auf kassenfinanzierte Diagnostik angewiesen sind, Wartezeiten für die Diagnose bis zu einem Jahr. Wenn die Eltern nicht finanzstark genug sind, sich bei Wahlärzten eine Diagnostik zu leisten. Damit sind die Patienten noch nicht in Therapie, für Autismus-Therapieplätze hat man Wartezeiten bis zu zwei Jahren.
KULJUH: Und das bei Kindern, die in diesem Alter Entwicklungsmeilensteine machen!
BÖGE: Das sind Wartezeiten, die sind inhaltlich nicht vertretbar.
KULJUH: Und die Kosten für Diagnostik etc. werden nicht übernommen, die Familien können sich das nicht leisten – und dann verzweifeln die Familien.
Vergisst unsere Gesellschaft die Kinder?
BÖGE: Die Kinder haben keine Lobby. Es sind oft sozial schwache Familien, die wenden sich nicht an die Presse, an die Politik. Kinder und Jugendlichen nehmen, was da ist, und klagen das nicht ein. Vergessen ist aber zu hart – die Kinder sind nicht vergessen worden, gerade in den letzten zwei Jahren gibt es ein zunehmendes Augenmerk auf die Kinder.
Obwohl es mehr Augenmerk gibt: Sie haben einen wissenschaftlichen Artikel über Wartezeiten in Österreich veröffentlicht, der dem System kein gutes Zeugnis ausstellt.
BÖGE: Bis auf Salzburg und Vorarlberg gibt es in der stationären Versorgung der Bundesländer überall Defizite.
Wie viele Betten brauchen wir in den Spitälern, wie viele niedergelassene Ärzte brauchen wir, um die Kinder und Jugendlichen gut zu versorgen?
BÖGE: Die Steiermark ist aktuell das zweitletzte Bundesland für stationäre Versorgung in den Auswertungen, durch den aktuellen Spitalsausbau am LKH Süd II wird es besser, da sind wir dann am untersten Wert der Bettenmessziffer angekommen, kommt dann auch noch Home-Treatment als Spitalsangebot dazu, kommen wir da aus – Kärnten liegt im Mittelfeld in der Statistik.
Was bedeutet das in Zahlen?
BÖGE: Kärnten hat auf rund 96.000 Kinder und Jugendliche 31 vollstationäre Betten, die Steiermark – vor dem laufenden Ausbau – auf rund 214.000 Jugendliche 33 vollstationäre Betten. Aber die Steiermark hat bald 53 vollstationäre Betten. Dringend ausbaubedürftig ist aber die Versorgung durch niedergelassene Ärzte, gerade in der Peripherie. Die Wartezeiten sind derzeit einfach zu lange, auch wenn sich die niedergelassenen Kollegen sehr bemühen, dem Bedarf gerecht zu werden.
Wieso konnte das so lange dauern?
BÖGE: Es gibt den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich noch nicht so lange. Lange wurde auf das psychische Befinden nicht hingeschaut. Aber da hat Covid-19 uns fast einen Gefallen getan, überspitzt formuliert, Covid-19 hat den Fokus auf das psychische Befinden bzw. die psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen gebracht. Im Sinne: Wir verlieren unsere Zukunft, wenn wir jetzt nicht auf die Kinder und Jugendlichen schauen. So sind neue Angebote entstanden, am Entstehen.
Es gibt eine Elternbewegung, die sich für Homeschooling einsetzt: Wie gehen Sie damit um?
KULJUH: Die Schule war nicht nur ein Begegnungsort. Es war auch ein Schutzort. Ich sehe jetzt ganz viele Schulverweigerungen ab dem Beginn des Jugendalters, die dann sehr schwer zurückfinden. Da sind viele Kinder darunter, die vorher schon eine Angststörung oder Ähnliches hatten. Durch die Isolation hat sich das verstärkt. Und der Trend zum Homeschooling hat sich fortgesetzt.
Warum setzt sich der Trend auch nach Covid fort?
KULJUH: Weil diese Eltern nicht mit der Angst des Kindes zurechtkommen. Sie müssten ja lernen, wie sie mit dem Kind umgehen sollen, damit dieses Kind wieder in die Schule geht und nicht sozial isoliert wird. Es ist falsch, ein Kind krankzuschreiben und die Schulabstinenz zu fördern. Es muss ein System geben, dass das Kind wieder in die Schule bringt und gleichzeitig ein Elterncoaching möglich macht.
BÖGE: Homeschooling ist ein gefährlicher Trend, weil es den Kindern ermöglicht, sich nicht mehr in Konfrontation im sozialen Kontext begeben zu müssen.
KULJUH: Es bräuchte dafür viel Arbeit. Jemanden, der diese Kinder aus der Familie in die Schule begleitet, und jemanden, der Kinder dort empfängt.
Wie lange sind Ihre Wartelisten für die Patienten?
KULJUH: Ich werde nie fertig mit der Arbeit. Ich könnte einen zweiten Facharzt für meine Kassenstelle einstellen, damit man die Arbeit bewältigt. Derzeit habe ich bis zu 30 Anfragen für Termine an einem Tag. Mein Netzwerk an Psychiaterinnen, Kinderärztinnen, Psychotherapeutinnen sieht einen Zuwachs an Angsterkrankungen, Depressionen, Essstörungen und Schlafstörungen. Und autistische Fälle werden sichtbarer. Ich habe jetzt vier, fünf Wochen Wartezeit. Aber wenn ich Patienten warten lasse, dann sagen sie ab. Weil die Fälle durchwegs akut wären. Es fehlen die niederschwelligen Angebote, in der Schule etc. – da fehlt es im System. Die Zeiten, in denen der Schulstress zunimmt, sind schwieriger.
BÖGE: Es gibt zwar Wahlärzte, aber nur für jene, die das Geld haben oder die entsprechende Versicherung. Das sind aber nicht die Patienten, die wir in aller Regel haben. Es geht um die sozial Schwachen, bei denen das Geld nicht vorhanden ist. Bei uns an der Klinik sehen wir Wartelisten von vier bis sechs Monate auf Therapieaufenthalte.
KULJUH: Schockierend! Kinder müssen mit schweren Symptomen leben, ohne adäquat behandelt werden zu können.
BÖGE: Im Endeffekt tauchen 75 Prozent aller psychischen Störungen im Erwachsenenalter zwischen 7 und 24 Jahren auf. Und 50 Prozent bis zum 14. Lebensjahr, und von diesen 50 Prozent manifestieren sich 60 bis 80 Prozent chronisch, wenn man sie nicht früh genug behandelt.
KULJUH: Man muss sich das für die Zukunft einmal vorstellen, was da gerade passiert: Das sind Patienten, die als Erwachsene vielleicht nicht arbeiten können, viele Krankenstände haben, sich nicht weiterentwickeln können.
Was lernen wir daraus? Was muss die Politik, die Gesellschaft, jetzt tun?
BÖGE: Dass es für eine gute Versorgung eine sehr gute Zusammenarbeit von Institutionen wie Schule, Kinderhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie braucht, um die vorhandenen Ressourcen zu bündeln und Synergien zu nutzen. Alleine wird das die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht schaffen.
Wie viel Zeit haben wir noch?
BÖGE: Es geht darum, dass man jetzt den Zeitpunkt nicht verpassen darf, das Ruder herumzureißen. Und dass es innovative Konzepte braucht wie Home-Treatment, damit man die Kinder in ihrem Umfeld lassen kann – denn wenn wir sie durch stationäre Aufnahmen aus ihrem Umfeld herausnehmen, dann tun wir das Gleiche, was in der Coronazeit vorhanden war: Wir isolieren die Kinder von ihrem wichtigsten Lernumfeld: ihren gleichaltrigen Freunde, ihrer Familie. Es brauch neue innovative Ansätze.
KULJUH: Kassenfinanzierte Psychotherapieplätze sind in einem großen Ausmaß notwendig, nicht alle Eltern können sich das leisten. Das Gleiche gilt für logopädische Behandlungen etc. und niederschwellige Angebote in der Schule, weil es ein Lebensort der Kinder und Jugendlichen ist. Und alle die, die im System sind, müssen sich besser vernetzen.
Didi Hubmann