Waren Sie überrascht vom Fall Florian Teichtmeister?
ADELHEID KASTNER: Nein. Die Sexualität ist ein dermaßen intimer und abgeschotteter Bereich, den trägt man ja nicht auf einer Platte vor sich her. Solange sie freiwillig und mit einwilligungsfähigen Personen stattfindet, geht es auch keinen was an. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich in Sadomaso-Klubs einfinden und im normalen Leben nicht auffallen. Überraschen tut mich prinzipiell nichts. Es ist bei fast jedem fast alles möglich.

Gibt es einen Auslöser für diese Sexualpräferenz?
Nein. Ist man rein pädophil, ist es eine sexuelle Orientierung, die man hat. Dafür gibt es keine fassbare Ursache, man kann diese Orientierung auch nicht wegtherapieren. Das Problem ist, dass es sich auf Kinder richtet, die dadurch Schaden nehmen. Sie sind nicht einwilligungsfähig, der Missbrauch findet im Machtgefälle statt.

Was machen pädophile Menschen, die definitiv kein Kind missbrauchen wollen? Können sie ein normales Leben führen?
Sexualität macht nicht das ganze Leben aus, aber diese Personen können keine Sexualität mit anderen führen. Das ist belastend. Es gibt Strategien, wie Männer (vorwiegend sind Männer betroffen) versuchen, damit zu leben, manche suchen sich kindhafte, zarte Frauen mit babyglatt rasiertem Intimbereich. Weil sie eben kein Kind missbrauchen wollen. Der Großteil derer mit pädophiler Neigung missbraucht nicht, sondern behilft sich anders.

Aber das Ansehen von Kinderpornos ist klar Missbrauch.
Jeder, der ein Kind missbraucht, blendet unleugbare Aspekte des Übergriffs aus, indem er sich einredet "das Kind wollte es eh" oder "sie hat mich dazu aufgefordert …". Missbrauchsdarstellungen kann man sich noch einmal leichter schönreden, weil kein direkter Kontakt stattfindet. Aber jedem durchschnittlich intelligenten Menschen ist natürlich klar, dass da ein reales Kind abgebildet wird, das irgendwer missbraucht. Mittelbar missbrauche ich also sehr wohl selbst das Kind.

Sie sagten, Pädophilie ist nicht therapierbar, es gibt lediglich Strategien.
Genau. Hinzu kommt das Problem, dass Verbotenes immer noch reizvoller wird und daher immer größeren Raum in der Fantasie einnimmt. Manche Leute rutschen so sehr rein, dass sie kaum an etwas anderes denken können. Hier gibt es medikamentöse Möglichkeiten, den Sexualtrieb zurückzudrängen. Trotzdem: Man muss differenzieren. Nicht jeder Pädophile missbraucht, nicht jeder Missbrauchstäter ist pädophil. Die Missbrauchstäter sind eine Teilmenge der Pädophilen und Pädophile sind eine Teilmenge der Missbrauchstäter.

Wie stehen Sie zu härteren Strafen für pädophile Straftäter
Die Frage ist, was man damit erreichen will. Präventiv ist eine Erhöhung des Strafrahmens sicher nicht. Wer das tut, überlegt ja nicht, wie hoch der Strafrahmen ist, sondern ist überzeugt, nicht erwischt zu werden. Aber Strafe hat ja mehrere Funktionen, sie verdeutlicht auch den Unrechtsgehalt einer Handlung und ist Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Positionierung. Wenn eine Gesellschaft Missbrauch nicht für schlimm hält, wird der Strafrahmen geringer ausfallen. Umgekehrt wird der Strafrahmen höher angesetzt werden, wenn eine Gesellschaft sich drastisch dagegen positionieren will.

Zurück zum Fall Teichtmeister. Wie schafft es jemand, über zwei Jahre den Behörden geständig zu sein und allen anderen etwas vorzuspielen?
Na ja, wie viele Leute in bestehenden Partnerschaften haben etwa nebenbei über längere Zeit eine Freundin oder einen Freund und spielen etwas vor? Das ist thematisch zwar anders, aber vom Mechanismus ziemlich ident. Es gibt genug Leute, die spielsüchtig sind und daheim weiß niemand etwas davon. Dass man Teile seines Lebens vor anderen effizient verbergen kann, ist, glaube ich, schon allgemein bekannt. Man trennt die Dinge, das eine ist privat, das andere in der Öffentlichkeit. Prinzipiell ist es möglich, ein sichtbares und ein verdecktes Leben zu führen, das gibt es in mehreren Bereichen.

Wenn Sie schweren Straftätern gegenübersitzen, was geht Ihrer Meinung nach in diesen Menschen vor?
Das ist ganz verschieden. Es gibt welche, die haben lange innere Kämpfe, bis sie sich so weit selbst korrumpiert haben, dass sie eine Straftat begehen, andere handeln spontan und unüberlegt, manche fühlen sich auch bei Mord im Recht.

Sie sagten eingangs, Sie überrascht nichts mehr. Unterscheiden Sie Menschen überhaupt in Gute und Böse?
Das habe ich nie getan. Die meisten von uns haben unerquicklichere Anteile. Viele, die etwas Verwerfliches gemacht haben, wiederum Nette. Schwarz-Weiß-Malerei wird der Realität nie gerecht.

Warum sind Sie forensische Psychiaterin geworden?
Ich bin neugierig. Wie unterschiedlich Menschen funktionieren können, ist doch immer wieder erstaunlich.

Abschließende Worte ...?
Im aktuellen Fall gab es auch den Vorwurf der häuslichen Gewalt. Soweit mir bekannt, wurde dieses Verfahren eingestellt, das Verfahren zum Vorwurf des mittelbaren Kindesmissbrauchs hat bisher nicht zu einer rechtskräftigen Entscheidung geführt. Man darf sich allerdings fragen, ob sich die öffentliche Meinung beim Thema der häuslichen Gewalt auch so vehement gegen diesen Mann gerichtet hätte und ob man da beispielsweise dieselben Konsequenzen gezogen hätte. Seit Jahren wird über Gewalt in Partnerschaften, Gewalt gegen Frauen gesprochen. Ich bezweifle aber, dass es eine ähnlich klare Positionierung gegeben hätte, wenn es nur um das Thema der Gewalt in der Partnerschaft gegangen wäre.