Herr Professor, in Ihrem morgen erscheinenden Buch „Verrücktheiten“ rufen Sie dazu auf, sich auch in schwierigen Zeiten nicht verrückt machen zu lassen. Wie gelingt das?
Reinhard Haller: Wir müssten an unsere eigenen Stärken denken. In Krisen ist oft alles dominiert von Angst, vieles wird als bedrohlich erlebt. Man vertraut nicht auf sich selbst, auf die eigenen Kräfte. Gerade in Zeiten wie diesen müssen wir versuchen, auf die gesunden Ressourcen zurückzugreifen. Zum anderen sollte all den Belastungen der Charakter des Katastrophalen genommen und eher die Herausforderung gesehen werden. Wir müssten angesichts von Inflation, Teuerung, Umweltproblemen sagen: Ärmel hoch, das müssen wir jetzt schaffen! Wir werden wohl auch hinkriegen, was unsere Vorfahren viel häufiger erleben und machen mussten.

Also eine neue Einstellung gegenüber Krisen?
Ja, das wäre etwas ganz Wichtiges. Wir sollten Krisen als eine Aufgabe sehen, die bewältigt werden kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das als Gesellschaft auch können. Wir müssten unserem Selbstwert vertrauen, den eigenen Ressourcen und auch auf die Kraft des verrückten Denkens, auf die Möglichkeit eine `ver-rückte´ Einstellung im positiven Sinne gegenüber Krisen zu bekommen.

Denken Sie da an Elon Musk, der Putin aufgefordert hat, mit ihm Mann gegen Mann um die Ukraine zu kämpfen und den Sie in Ihrem Buch augenzwinkernd als Beispiel für kreative Verrücktheit anführen?
Natürlich ist seine Aufforderung eine verrückte Idee. Sie sehen, wie faszinierend vielfältig der Begriff Verrücktheit ist! Im Prinzip ist es aber ein unglaublich origineller, kreativer Lösungsvorschlag, der sehr viel menschliches Leid verhindern würde.

Manche meinen, Musk sei ein wenig verrückt.
Da spielt auch der Neid eine Rolle. Letztlich bedauern wir vielleicht, dass wir selbst nicht den Mut haben, zu unseren Spinnereien zu stehen.

Nobelpreisträger Nils Bohr meinte, verrückte Ideen seien das Salz der Erde.
Genau. Verrücktheit ist ein schillerndes, differenziertes Phänomen, das leider oft nur negativ gesehen wird.


Sie schreiben, die nüchterne Erkenntnis laute, dass die heute als verrückt bezeichnete Zeit mit Blick auf die Geschichte eigentlich die normale und die bislang für uns normal scheinende die verrückte Zeit ist.
Aus dem Augenblick betrachtet erleben wir natürlich verrückte Zeiten. Aus der historischen Perspektive im Längsschnitt ist es umgekehrt. Unsere Generation ist die Einzige, die keinen Krieg, bis 2020 keine Pandemie, keine Hyperinflation mitgemacht hat. Das war privilegierend herausgerückt, letztlich ist jetzt sozusagen die Normalität eingekehrt, wie sie frühere Generationen kannten.

Wie oft werden Sie gefragt, ob Putin verrückt ist?
Ob er verrückt, ein Narzisst oder geisteskrank ist, bin ich schon sehr oft gefragt worden. Ich glaube nicht, dass er verrückt im Sinne von geisteskrank ist, aber er ist es im Sinne von narzisstischer Verrücktheit. Er dürfte derart abgehoben sein, dass er jede Empathie abgetötet haben muss. Ansonsten könnte er es nicht ertragen, für den Tod Tausender Menschenleben verantwortlich zu sein.

Was sollten jene wissen, die mit ihm verhandeln?
Die Frage ist, ob er immer ein Narzisst war oder ob er narzisstisch geworden ist. Bei einem Narzissten kann man nur den Rat geben, sofort die Flucht zu ergreifen. Wer nicht flüchten kann, muss ihm Grenzen aufzeigen und ihm mit seinem eigenen Werkzeug begegnen. Das ist der Spiegel.

Putin den Spiegel vorhalten?
Erdogan hat hier von Anfang auf die richtige psychologische Lösung verwiesen und er weiß selbst, wovon er spricht. Er sagte, Putin dürfe nie das Gefühl haben, sein Gesicht verloren zu haben. Vor nichts hat ein narzisstischer Mensch mehr Angst als sein Gesicht zu verlieren, eine Niederlage ertragen zu müssen. Wenn man Putin dieses Gefühl nicht gibt, wird er immer Gegenreaktionen setzen. Ich denke, es wäre die hohe Kunst der Diplomatie, einen Weg zu Gesprächen zu finden und ihm den Empathie-Spiegel vorzuhalten.

Was ist der Grund, dass gerade psychopathologische Menschen oft sehr erfolgreich sind?
Man hat immer die Frage gestellt, ob Narzissmus ein Karrierekiller oder ein Karriereförderer ist. Am Anfang ist es ein Karriereförderer. Da braucht man Menschen mit großem Selbstvertrauen, Zielstrebigkeit, Rücksichtslosigkeit, Menschen, die manipulieren und begeistern können. Das kann gut für den Betrieb sein. Im Laufe der Zeit dreht sich das um, weil der Narzisst nicht mehr teamfähig ist. Ganz pragmatisch gesagt: Jeder Betrieb sollte einen Narzissten einstellen, aber nach zehn Jahren rausschmeißen.

Eine der vielen Fragen in Ihrem Buch „Verrücktheiten“ ist, was normal, grenzwertig, verrückt ist. Wie schwer ist es, die Grenzen zu ziehen?
Das ist nicht einfach. Auf der einen Seite sollen wir uns normal verhalten, auf der anderen ist Fortschritt und Individualisierung gar nicht möglich, wenn wir uns nicht ein Stück weit aus dieser Normalität herausbewegen. Auch Normalität kann krank machen, wenn man immer die eigenen Bedürfnisse zurückschrauben und sich immer anpassen muss. Ich nenne diese Menschen augenzwinkernd Normopathen – im Gegensatz zum Psychopathen. Wenn wir jede Norm, die vorgegeben ist, immer einhalten, kommt es zur Erstarrung. Es gibt dann keinen Fortschritt mehr, keinen Wechsel, keine Kreativität.

Rufen Sie jetzt dazu auf, ein wenig verrückter zu sein?
Ja, man kann sich nur entfalten mit einem bestimmten Maß an Verrücktheit.

Letzteres kann dann aber dazu führen, als verrückt im negativen Sinne zu gelten. Sie prangern in Ihrem Buch auch die Hyperinflation bei psychiatrischen Diagnosen an.
Es gibt heute den Eifer der Wissenschaft, für alles eine Erklärung zu finden. Es ist doch völlig normal, nach einem Todesfall länger als zwei Wochen traurig zu sein. Früher gab es das Trauerjahr, heute wird der diagnostische Stempel „depressive Episode“ aufgedrückt. Normale Verhaltensweisen werden pathologisiert. Nach dieser Einstufung wären heute 37 Prozent von uns allen verrückt im krankhaften Sinne.

Was sind die Gründe für diese verrückten Verrückungen?
Die Pharmaindustrie spielt sicher eine Rolle für die inflationären Diagnosen bei ADHS oder Autismus. Ich habe als Psychiater zehn Autisten gesehen. Nach den Diagnosen müssten es aber sieben Prozent der Bevölkerung sein. Völlig übersehen wird dabei auch, wie wichtig es ist, dass wir exzentrische, originelle Charaktere haben. Was wäre unser Leben ohne die bunten Vögel...

...oder ohne lebhafte Kinder. Was bedeutet es für Kinder, wenn es bis zu 90 Prozent falsche ADHS-Diagnosen gibt?
Dass sie früh auf die Lösung getrimmt werden, dass es gegen alles Medikamente gibt und dass sie jene Dinge, die sie bräuchten, wahrscheinlich nicht bekommen - die drei großen Z: Zuwendung, Zärtlichkeit, Zeit.

Stichwort falsche Diagnosen. Da fällt jener „Kollege“ von Ihnen ein, den Sie in „Verrücktheiten“ erwähnen. Wie schaffte es dieser Postbote, als „Psychiater“ alle zu täuschen?
Es gibt Menschen, die begabt im Erfassen anderer sind und intelligent genug, um die psychiatrische „Geheimsprache“ zu erlernen. Der Gerichtspräsident hat damals gesagt: „Der P. war als Gutachter viel besser als unsere professionellen Gutachter.“ Zur Ehrenrettung meines Standes muss ich sagen, dass es vergleichbare Fälle auch bei anderen Ärzten gab.

Eine letzte Frage: Haben Sie am 1. Jänner noch Vorsätze?
Es hat ja jeder so einen inneren Lebensfahrplan. Ich habe das Ziel, gelassener zu werden. Dann geht man mit negativen Verrückungen besser um.

Verrücktheiten. Warum wir verrückt sein können, ohne verrückt zu werden. Reinhard Haller. 128 Seiten, 19,90. Edition Kleine Zeitung. Erhältlich in Büros der Kleinen Zeitung, auf shop.kleinezeitung.at, unter 0800 556640526 und im Buchhandel.