Sie haben sich bereits 2018 unter Protest aus einem der Gremien für die neuen Lehrpläne zurückgezogen. Sehen Sie sich in Ihrer Kritik bestätigt?
STEFAN HOPMANN: Ja, ich habe in meiner langen, langen Laufbahn selten so überzogene und so vollgemüllte Lehrpläne gelesen wie diese. Wenn ich das ins Buchregal stellen würde, dann nicht zur Kategorie "Pädagogik", sondern eher zu den Märchen.
Also wurde zu viel reingepackt und zu hohe Erwartungen gestellt?
Ich habe da noch eine Kritik: Dass Lehrpläne mehr verlangen, als im Unterrichtsalltag bewältigt wird, das war schon immer so. Diese Kritik gab es bereits im 19. Jahrhundert. Der entscheidende Unterschied ist: Damals waren Lehrpläne nur ein Handlungsrahmen. Aus diesem Rahmen konnten sich Schulen das nehmen, was für ihren Unterricht passt. Jetzt aber, mit Neuerungen wie standardisierten Tests, Zentralmatura, Schulqualitätsmanagement etc. wird Druck auf die Lehrkräfte ausgeübt, alles, was in diesen Lehrplänen vorkommt, irgendwie gemacht zu haben.
Der Handlungsspielraum der Lehrerinnen und Lehrer wird also sehr stark eingeschränkt.
Der geht gegen null. Wenn man sich den Mathe-Lehrplan anschaut, da stehen sogar Rechenbeispiele drin. International wird das "Scripted Teaching" genannt: Da wird vorgeschrieben, was in welcher Reihenfolge wann zu unterrichten ist. Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, ob die Anwesenden im Klassenzimmer etwas mitbekommen oder nicht.
Was macht das mit Lehrern, wenn alles von oben vorgegeben wird?
Es wird wohl so sein, dass die Mehrheit diese Lehrpläne ignorieren wird. Das Problem ist natürlich, dass sie sich trotzdem an den vielen Kontrollmechanismen orientieren müssen.
Wie könnte man diese Lehrpläne besser machen?
Der erste Schritt wäre, sich darauf zu konzentrieren, wofür Lehrpläne da sind: einen Handlungsrahmen abstecken, ohne dass man damit überzogene Erwartungen verbindet. Nach diesen Plänen wäre es ja so, dass sie pro Unterrichtsstunde gleich mehrere Kompetenzen vermitteln müssen. Das ist völliger Irrsinn. Gleichzeitig wäre es notwendig, den Schulen wieder stärker selbst zu überlassen, wie sie diesen Handlungsrahmen konkret mit den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften nutzen können. Langfristig wird so die Leistung besser werden: Denn durch chronische Überforderung der Anwesenden schaffe ich nur eine stärkere Trennung zwischen denen, die können und denen, die nicht können. Aber ich erreiche damit insgesamt keine besseren Leistungen, weil keine Zeit bleibt, um den Stoff zu festigen.
Die Leistungen schwächerer Schüler werden durch diese Lehrpläne also noch schlechter?
Das ist klar. Diejenigen, die zudem Zusatzunterricht am Mittagstisch bekommen, können mit so einem Tempo einfacher umgehen als diejenigen, die solche Hilfe nicht haben.
In den USA und anderen Ländern wurde ja schon in der Vergangenheit eine ähnliche Strategie mit standardisierten Prüfungen und umfangreichen Vorgaben gewählt.
Das ist dort dann auch komplett gescheitert. Historisch gesehen hat dieser Ansatz der Kombination von hochgeschraubten Erwartungen mit Kontrollen der Erreichung noch nie und nirgends nachhaltig funktioniert.
Warum wird das dann immer wieder versucht?
Das hat ganz andere Gründe. Grob gesagt drei: Bildung ist einerseits der letzte Bereich, in dem das Gleichheitsversprechen noch gemacht werden kann: dass jeder die gleiche Chance hat. Die Politik schreibt deshalb alles politisch Wünschenswerte in diese Programme rein, wohl wissend, denke ich, dass dadurch gar nichts erreicht wird. Für die Wissenschaft ist das wiederum die goldene Kuh: Es hat noch nie so viel Geld für Bildungsevaluation gegeben wie heute. Und der dritte Spielpartner ist die Medienindustrie, die noch nie so viel Geld verdient hat an der permanenten Umschichtung und Erneuerung von Bildungsmedien.
Also sagen Sie: Lehrpläne wie diese entstehen, weil es Eigeninteressen verschiedener Gruppen gibt.
Da sind ganz klar politische und wirtschaftliche Interessen wichtiger als pädagogische.