Es ist unangenehm für alle Beteiligten. Der Zug ist bis auf den letzten Platz gefüllt, am Gang stehen die Menschen Schulter an Schulter, mittendrin zwängt sich der Schaffner durch die Menge. Er muss entscheiden, ob er im Notfall alle relevanten Bereiche erreichen kann, also den Feuerlöscher, die Notsprechstelle oder den Türöffner. Kann er das nicht, muss er Fahrgäste ohne reservierten Sitzplatz aus dem Zug werfen. Ein Ticket für eine Strecke garantiert nicht die Fahrt in einem bestimmten Zug.
Szenen wie diese spielen sich jetzt am langen Wochenende, ähnlich wie vor Schulferien, wohl öfters ab. Vor und nach freien Tagen werden zu den Stoßzeiten die Plätze auf der West- und Südstrecke schon seit Jahren knapp. Heuer spitzt sich die Situation noch weiter zu. In Medien und Internetforen mehren sich Berichte über Zugräumungen auf Strecken, wo in der Vergangenheit ein Auge zugedrückt wurde. Von Gestrandeten zwischen Innsbruck und Salzburg ist da etwa die Rede. In einigen Fällen musste sogar die Polizei zu Hilfe geholt werden.
Zugfahren boomt
Die hohen Spritpreise machen die Schiene wieder attraktiver, das Klimaticket trägt seinen Teil dazu bei. Im April beförderten die ÖBB um zehn Prozent mehr Menschen als im April 2019. Jetzt im Mai rechnet das Unternehmen sogar mit einem Anstieg von 15 Prozent im selben Vergleichszeitraum. Noch im Februar lagen die Fahrgastzahlen weit unter dem Vorkrisenniveau.
Wie groß das Problem tatsächlich ist, lässt sich schwer sagen. Den ÖBB zufolge mussten rund um die Osterferien zwischen zehn und 15 Züge geräumt werden. Da es nur zwei Routen zu bestimmten Zeiten betrifft, passiert das dort womöglich gar nicht so selten. Die Agentur für Passagier- und Fahrgastrechte weist in ihren Jahresberichten diesbezügliche Beschwerden nicht explizit aus. Aktuelle Zahlen waren nicht zu erfragen.
Was also tun?
Die Gewerkschaft rief schon Mitte Mai dazu auf, den Zorn bestenfalls nicht an den Mitarbeitern auszulassen: "Es ist auch für einen Mitarbeiter keine angenehme Situation, einen Zug räumen zu müssen. So etwas geschieht nur nach reiflicher Abwägung aller Risiken, aber nie willkürlich", betont Günter Blumthaler, Vorsitzender des Fachbereichs Eisenbahn in der Gewerkschaft vida. Er sieht die Eisenbahnunternehmen gefordert, Maßnahmen zu setzen, um einer Überfüllung von Zügen vorzubeugen.
Diese möglichen Maßnahmen machten in den letzten Tagen Schlagzeilen. Von einer allgemeinen Reservierungspflicht im Fernverkehr, wie das etwa in Frankreich seit Jahren gängige Praxis ist, halten die ÖBB jedoch nichts: "Die Passagiere sollen die größtmögliche Flexibilität haben. Vor allem für die vielen Tagespendler im Fernverkehr wäre das eine enorme Verschlechterung", sagt ÖBB-Unternehmenssprecher Bernhard Rieder. Kurzfristig haben die ÖBB ihre Lösung schon lange gefunden. An sogenannten Starkreisetagen werden Züge eingeschoben. Am Mittwoch und Donnerstag waren zwischen Wien, Salzburg und Innsbruck einige doppelte Garnituren und zusätzliche Züge unterwegs, von Wien über Leoben nach Villach wurden Züge eingeschoben. Am Sonntag dann dasselbe Schauspiel retour.
Platzproblem ist "Steuerungsproblem"
Mittelfristig möchten die ÖBB die Fahrgäste besser steuern: "Über den ganzen Tag verteilt, gibt es ausreichend Kapazitäten, das Problem sind einzelne Züge und Routen", versichert Rieder. Dass sich viele nicht die konkrete Zugfahrt aussuchen können, liegt auf der Hand. Deshalb sollen Fahrgäste verstärkt freiwillig ihre Sitzplätze reservieren und im Nahverkehr weniger Fernzüge nutzen. Rieder bringt das Beispiel Wien–Wiener Neustadt. Vereinzelt seien hier Regionalzüge unterwegs, die kaum langsamer sind als die Railjets. Sollte das nichts bringen, "müssen wir uns weitere Maßnahmen ansehen", sagt Rieder. Für einzelne "Problemzüge" sei die Reservierungspflicht also noch nicht vom Tisch.
Peter Schöggl