Frau Schaffelhofer-Garcia Marquez, Sie sagen, es sei eine „Mär, dass Kinderarmut nur ärmere Staaten in Europa betrifft“. Welche Gesichter hat denn Kinderarmut in Österreich?
Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez: Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Daraus ergibt sich auch fehlende Teilhabe. Etwa bei Schulveranstaltungen wie dem Skikurs oder Sprachreisen nicht mitmachen zu können. Es heißt, dass ich niemanden zum Geburtstag einladen kann. Daheim besucht mich niemand, weil viele Familienmitglieder auf beengten Raum wohnen. Ich schäme mich und habe Stress, weil ich versuche, diesen Zustand zu verdecken. Armut heißt auch: keine adäquate Winterkleidung. Kinder, die mit Turnschuhen durch den Schnee stapfen. Es heißt, dass gesunde oder warme Mahlzeiten fehlen. Gleichzeitig wissen wir, dass Kinder aus finanziell schlechter gestellten Familien häufiger zu Übergewicht und Adipositas neigen, weil sie weniger Bewegungsmöglichkeiten haben. Wenn das Geld knapp ist, sind Karatestunden nicht drinnen. Das sind Beschränkungen. Nicht alle haben die gleichen Chancen, aus einer Familiensituation, für die sie nichts können, herauszuwachsen – um selbstbewusster und mit besseren Einkommenschancen ihr Erwachsenenleben zu bestreiten.
Was entgegnen Sie dem Argument, dass unsere Kinder im Ländervergleich relativ gut dastehen?
Grundsätzlich stimmt das. Wenn wir uns andere Kontinente ansehen, ja, dann geht es den Kindern in Österreich definitiv viel besser. Im Sinne von: Wir haben eine Schulpflicht und kein Kind muss arbeiten, um die Familie zu ernähren. Es gibt eine gesetzliche Regelung, die Gewalt an Kindern untersagt. Aber: Wir sind auch eines der reichsten Länder der Welt. Insofern haben wir eine andere Verantwortung, als ein Land, das ohnehin keine Ressourcen hat.
Die Volkshilfe Österreich hat im Juni eine Umfrage unter armutsbetroffenen Familien in ganz Österreich durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen eine auffallende Verschlechterung der Lebensqualität in Zeiten der Pandemie. Betroffene Kinder sind laut Angaben ihrer Eltern trauriger, einsamer und aggressiver als zuvor. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?
Definitiv. Dass die psychische Belastung zugenommen hat, konnte man allgemein beobachten – nicht nur bei Armutsbetroffenen. Essstörungen, Depressionen und Selbstverletzungen betreffen auch Familien, die finanziell besser dastehen. Aber: Diese Probleme betreffen die, wo es Zuhause an allen Ecken und Enden kracht, weil das Geld fehlt, noch stärker. Denn die Schule ist ein ausgleichender Faktor. Ein Ort, wo man zeitweise aus einem Zuhause rauskommt, wo vielleicht nicht alles super ist. Gleichzeitig sind Lehrerinnen und Lehrer im besten Fall Personen des Vertrauens, denen auffällt, wenn es Danila oder Paul nicht gut geht.
„Geringverdiener“ hat es auf die Liste der Jugendwörter des Jahres geschafft. Der Ausdruck wird als scherzhafte Beleidigung verwendet, die mit „Verlierer“ gleich zu setzen ist. Hapert’s am gesellschaftlichen Empathievermögen?
Aus meiner Sicht verwenden Jugendliche den Begriff "Geringverdiener" oftmals nicht mit dem Wissen, dass in der Familie des anderen tatsächlich das Geld knapp ist. Vielmehr handelt es sich um ein Modewort, wenn man so will, das salopp dahingesagt wird. Deshalb wäre es wichtig, Kinder und Jugendliche ohne Moralisierung zu fragen: "Wisst ihr was das heißt?" Was es bedeutet, wenn die kaputte Waschmaschine eine Katastrophe auslöst? Welche Konsequenzen das hat, wenn man für das Auto kein Pickerl mehr bekommt?‘ Es verhält sich so ähnlich wie mit „behindert“ als Schimpfwort: Ab dem Moment, wo Jugendliche Menschen mit Behinderung in ihrem engsten Umfeld haben, würden sie so ein Wort nicht mehr als Abwertung verwenden. Weil es keine Beschimpfung ist, sondern die Beschreibung eines Ist-Zustands.
Einmal arm, immer arm – reden wir über die Grenzen des sozialen Aufstiegs. An welchen Schrauben muss gedreht werden, um die Situation der Armutsbetroffenen langfristig zu verbessern?
Jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen. Das ist exakt der gleiche Satz, den wir schon 1998 in unsere Berichte geschrieben haben. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Das heißt: In den letzten 23 Jahren wurde an zu wenig Schrauben gedreht. Grundsätzlich gilt: Die Schrauben, die es gibt – zum Beispiel gratis Schulbücher, Schülerfreifahrt und Familienbeihilfe – sind gute Leistungen. Aber sie zeigen auch über den längeren Zeitraum, dass sie nicht ausreichen, um die Armutszahlen runterzubringen. Und noch ein Punkt: Im Regierungsprogramm steht der "Familienbonus Plus" unter dem Kapitel "Armutsbekämpfung". Und das ist unehrlich. Es ist eine Steuerleistung, von der nur jene profitieren, die genug verdienen. Was ich stattdessen für sinnvoll halte: sich die Modelle einer Kindergrundsicherung anzuschauen.
Apropos Maßnahmen: Die "Kindergarantie", eine Strategie der EU, soll in Zukunft Kinder vor Armut schützen. Dabei geht es um Dinge wie eine hochwertige frühkindliche Betreuung, mindestens eine gesunde Mahlzeit pro Schultag oder eine bessere Gesundheitsversorgung. Auch Österreich ist dabei – bis März 2022 soll ein nationaler Aktionsplan erarbeitet werden. Echte Chance oder Alibihandlung?
Ich werte es als positiv, dass Europa als reicher Kontinent beschließt, sich anzuschauen, wie man bis 2030 die Zahl der Kinder in Not senken kann. Jegliche Auseinandersetzung kann theoretisch zu einer Veränderung führen. In Österreich wäre das Familien- und Jungendressort für das Thema zuständig gewesen – die machen es nicht. Das Sozial- und Gesundheitsministerium kümmert sich jetzt federführend darum. Grundsätzlich bin ich ein sehr optimistischer Mensch. Wichtig ist, dass jetzt alle Regierungsressorts an einem Strang ziehen und Zugeständnisse machen. Es steht und fällt mit denjenigen, die an höchster Stelle Entscheidungen treffen – da können wir als Zivilgesellschaft ansonsten strudeln wie wir wollen, um Bewusstsein zu schaffen. Es wird sich trotzdem nichts ändern.
Katrin Fischer