Und nun auch Paris. Seit einer Woche gilt in der Stadt der Liebe auf 90 Prozent des Straßennetzes 30 Kilometer pro Stunde als Standardgeschwindigkeit. Die Stadt will so die Zahl schwerer Verkehrsunfälle verringern, ebenso Verkehrslärm. Bei einer anderen europäischen Hauptstadt kann statt „will erreichen“ bereits „hat erreicht“ geschrieben werden. Brüssel hat zu Jahresanfang Tempo 30 eingeführt, nun wurde die Evaluierung fürs 1. Halbjahr präsentiert. Ergebnis: 15 Prozent weniger Unfälle, 25 Prozent weniger Schwerverletzte und 41 Prozent weniger Verkehrstote. Der Verkehrslärm nahm deutlich ab.
Dass großflächiges Tempo 30 Menschenleben rettet, wurde in Österreich schon vor gut 30 Jahren in Graz bewiesen. Hier wurde 1992 auf Initiative von Verkehrsstadtrat Erich Edegger mit Ausnahme großer Vorrangstraßen flächendeckend Tempo 30 eingeführt. Die Zahl der im Straßenverkehr Verletzten und Todesopfer ist im Drei-Jahresschnitt um 25 Prozent zurückgegangen. Tempo 30 ist eine Maßnahme, die Menschenleben rettet, Leid verhindert und sehr gut funktioniert, wie viele Beispiele beweisen. Was bringen Gegner von Tempo 30 vor? Der Verkehrsfluss würde behindert und Autofahrten würden viel länger dauern. Die Realität sieht anders aus. Dank Brüssel gibt es dazu Daten: Die Reisezeiten blieben nach der Einführung auf untersuchten Strecken gleich. Der Verkehrsfluss wird besser, es gibt weniger Stop & Go. Und wer Öffentlichen Verkehr beschleunigen will, setzt Busspuren und eigene Gleiskörper für Straßenbahnen um.
Richtig ist, dass sich in Städten, wo großflächig Tempo 30 eingeführt wurde, einiges verändert. Es wurde z.B. mehr Rad gefahren, auch von Familien. Das ist nachvollziehbar: Wer möchte schon gerne, noch dazu mit Kindern, auf einer Straße, wo 50 km/h – und von manchen leider schneller – gefahren wird, mit dem Rad fahren? Auch die Luftverschmutzung durch Abgase ging zurück. Wo mehr Menschen mit Rad statt Auto fahren, verbessert sich die Luftqualität, Verkehrslärm nimmt ab und die Lebensqualität verbessert sich. Last but not least werden durch Verkehrsberuhigung auch Einzelhandel und Nahversorgung gestärkt, wie auch eine Studie der Wirtschaftskammer Wien belegt.
Wir stehen am Beginn eines neuen Schuljahres. Nicht nur wir als VCÖ, sondern alle haben den Wunsch, dass bis zum Ende des Schuljahres kein Kind am Schulweg bei einem Verkehrsunfall schwer oder gar tödlich verletzt wird. Verkehrsberuhigung und niedrigeres Tempo helfen wesentlich, dieses Ziel zu erreichen.
In Österreich gilt im Ortsgebiet gemäß § 20 StVO eine höchstzulässige Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde, sofern die Behörde nicht eine andere Geschwindigkeit oder eine Art der Verkehrsberuhigung verordnet. In Wien sind bereits mehr als 70 Prozent der Straßen verkehrsberuhigt, in Graz gilt mit Ausnahme von Vorrangstraßen Tempo 30 (rund 80 Prozent aller Straßen). Die meisten Wohngebiete liegen in verkehrsberuhigten Zonen. Straßen mit Tempo 50 sind überwiegend Hauptverbindungen sowie Strecken von Straßenbahn- und Buslinien. Die in Paris erlassenen Maßnahmen decken sich somit mit der in Österreich gelebten Praxis.
Die Festlegung des jeweiligen Tempolimits erfolgt nicht nur nach Kriterien der Verkehrssicherheit, sondern wird auch nach der Funktion der Straße im Wegenetz und der Erreichbarkeit von Reisezielen beurteilt. In den technischen Richtlinien wird den Auswirkungen des längeren Anhaltewegs bei höheren Fahrgeschwindigkeiten durch entsprechende Maßnahmen Rechnung getragen. Tempo 30 hat positive Effekte auf die Unfallwahrscheinlichkeit und auf die Unfallschwere, insbesondere bei Fußgängern. Die Geschwindigkeit ist aber nur einer von mehreren verkehrssicherheitsrelevanten Faktoren. Zukünftig bieten neue Assistenzsysteme wie Notbremssysteme zusätzliches Sicherheitspotenzial.
Hauptverkehrsstraßen, vor allem mit öffentlichem Verkehr, erfüllen eine wichtige Funktion im städtischen Straßennetz. Auf ihnen wird ein Großteil des Kfz-Verkehrs gebündelt. Dieses Netz muss leistungsfähig sein, damit Schleichverkehre durch Wohngebiete vermieden werden, die Verkehrssicherheit in diesen Bereichen nicht vermindert und der öffentliche Verkehr nicht verlangsamt wird.
Tempo 50 auf Hauptverbindungen ist zumeist vertretbar, da die Infrastruktur für diese Geschwindigkeit ausgelegt wird und eine Trennung von Kfz- und nicht motorisiertem Verkehr zu erfolgen hat. Auf Hauptverkehrsstraßen ist Tempo 30 daher in der Regel nicht sinnvoll und bei (verkehrssicherheitstechnischen) Defiziten im Einzelfall sorgfältig zu prüfen – so etwa bei Schulen, Krankenhäusern oder Seniorenheimen. Vielfach haben bauliche Gestaltungen sowie signaltechnische Verbesserungen deutlich positivere Einflüsse.
Gegenüber Hauptstraßen haben Sammel- und Erschließungsstraßen in Wohngebieten eine gänzlich andere Funktion. Neben der Erreichbarkeit steht die Aufenthaltsfunktion im Vordergrund. Tempo 30 kann in derartigen Straßen eine sinnvolle Maßnahme sein.