Immer wieder wurde beklagt, dass Schulreformen in Österreich eher einer zähen Betonmasse gleichen als einem stetig fließenden Strom. War die Coronapandemie da nicht ein Turbo? Stichwort Digitalisierung oder flexibler Umgang mit neuen Herausforderungen?
STEFAN HOPMANN: Der mehr oder weniger chaotische Einsatz von Online-Learning ist keine Reform, jedenfalls keine sinnvolle. Und auch, was da sonst so gelaufen ist, hat vor allem deutlich gemacht, welche Schwachstellen das System hat. Die sozialen Gräben sind noch deutlich gewachsen in der Krise. Inzwischen brauchen 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler fortlaufend außerschulische Hilfe. Rechnet man noch jene dazu, die das privat bekommen, ist das doch ein Skandal.
Können Sie auch etwas Positives sehen, das sich durch die Krise im Schulwesen verändert hat?
Ja, natürlich. Das Positivste ist, dass viele Lehrkräfte unheimlich konstruktiv auf diese Situation reagiert haben, weit über das Übliche hinaus. Dass es vielen Schülerinnen und Schülern gelungen ist, einigermaßen gut durch diese Zeit zu kommen. Wenn Schule jetzt noch den Kindern und Jugendlichen gezielt dabei hilft, mit diesen Zeiten zurechtzukommen, wäre viel geholfen. Es hätte ja noch viel schlimmer kommen können. Doch nicht zuletzt dank des Einsatzes vieler Lehrkräfte ist es besser gelaufen, als man hätte befürchten können.
Was hätte noch schlimmer kommen können?
Die Überforderung der Familien mit dem Schulbetrieb, die Unregelmäßigkeit der Angebote, die erheblichen psychischen Belastungen der Kinder.
Was braucht es denn jetzt, um die Kinder wieder aufzufangen?
Das Wichtigste wäre, den Grundsatzfehler einzusehen, der sich mit den Sommerschulangeboten wiederholt: dass das, was in den Lehrplänen steht und in irgendwelchen Tests gefordert wird, zwingend so sein muss, wie es ist. Dafür gibt es überhaupt keinen empirischen Grund. Was das Schulsystem in den letzten Jahren auseinandertreibt, sind ständig großartigere Erwartungen, was Schüler alles leisten können sollen. Und die gehen weit über das hinaus, was sich tatsächlich im Schulbetrieb lernen lässt. Das Wichtigste wäre, das erst einmal zu stoppen und Schule darauf zu konzentrieren, wofür sie da ist.
Wofür ist Schule denn da in Ihren Augen?
Eben nicht dafür, unbegrenzte Mengen an Wissen durch die Gegend zu schleudern. Sondern dass ich lerne, mich über Sachverhalte zu verständigen, mit Leuten, die ich mir nicht ausgesucht habe, über Themen, die ich mir nicht unbedingt gewünscht habe, auf Ziele hin, die vorgegeben sind. Und dass ich dabei trotzdem lerne, etwas Vernünftiges mit den Anderen zu leisten. Das ist die Grundlage von Gesellschaft und Demokratie. Es kommt nicht auf die Menge an, sondern auf die Gründlichkeit und Breite. Und es kommt darauf an, alle mitzunehmen.
Jetzt sind wir ja noch mitten in der Krise, und es geht beim Thema Schule wieder hauptsächlich um Tests, Masken und Sicherheitskonzepte. Fehlt es an pädagogischen Konzepten und Ideen für die nächste Zeit?
Ja, umso mehr! Leider wird uns Corona noch länger begleiten. Leider kann niemand garantieren, dass wir den Schulbetrieb das ganze Jahr über ordentlich geöffnet halten können. Auf jeden Fall wird es für Kinder und Jugendliche weiterhin erhebliche Einschränkungen und Unsicherheiten geben. Sie wachsen unter schweren Krisenbedingungen auf. Umso mehr müsste das Schulsystem die Lernfreude, Lebensfreude, Zukunftshoffnung und das Selbstvertrauen der Schüler bewahren und stärken. Sie müssen durch die Krise so durch, dass sie anschließend aufstehen und sagen: Wir können’s. Solange wir uns aber darauf konzentrieren, davon zu reden, dass sie schulische Defizite haben, wie wir unser Programm durchdrücken können und welche Zusatzkurse wir brauchen, machen wir genau das Gegenteil: Wir treten jemanden, der ohnehin schon am Boden liegt.
Was fordern Sie also hier von den Verantwortlichen ein?
Zu erkennen, dass das Schulsystem ohnehin schon ein Skandal ist, weil es einen erheblichen Teil der Kinder und Jugendlichen nicht so erreicht, dass sie wirklich eine Chance haben. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Und wir wissen aus der Forschung, dass das langfristig nicht ein bisschen mehr Mathematik oder Deutsch oder Physik ist. Sondern dass ich die Kommunikationsfähigkeit, die Zukunftshoffnung, das Selbstvertrauen behalte. Das ist viel entscheidender für meine Fähigkeit, später zusammen mit Anderen etwas zu leisten. Aber rechnen Sie bitte nicht damit.
Versuchen wir es trotzdem: Was könnte man denn anders machen als bisher?
Man könnte Lehrpläne wieder dahin setzen, wo sie einmal waren: Sie waren ein Angebot, aus dem Schulen auswählen konnten, passend zur jeweiligen Klasse, Lehrkraft, Situation. Da war gar nicht die Erwartung, dass man alles abdeckt. Dementsprechend hat man schon im 19. Jahrhundert die Noten von der Feststellung eines einzelnen Inhaltes abgekoppelt. Da stand dann nicht: 1 bedeutet, du kannst Cicero übersetzen oder Integralrechnung lösen. Sondern 1 bedeutet, du hast dich bewährt an der gemeinsamen Arbeit mit Sachen. Und zu der Idee könnte man zurückkehren.
Das wäre doch ein ziemlicher Umbruch, schließlich geht es zunehmend um Standards, was man können und wissen muss, oder?
Es würde voraussetzen, dass man die ganze Idee mit Standards, Zentraltests, kompetenzorientierten Zentralsteuerungen dahin tut, wo sie historisch hingehört: auf den Schrotthaufen. Wir führen jetzt im Herbst mit viel Trara die 21st Century Skills ein (Anm. vier Kompetenzen, die für Lernende im 21. Jahrhundert von herausragender Bedeutung seien: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken). Das ist etwas, das die Hälfte der Menschheit schon hinter sich hat und gemerkt hat, dass es auch nichts bringt.
Warum denn das?
Weil wir immer noch hinter diesem Irrglauben herrennen, Schule sei der Ort, an dem es darauf ankäme, in Kinderköpfe möglichst viel reinzuprügeln. Gerade Corona müsste uns daran erinnern, dass Schule dafür nicht da ist.
Nun gibt es ja auch ein paar Dinge, die sich seit Beginn der Pandemie in den Schulen zum Positiven verändert haben. Was kann man denn davon mitnehmen?
Wir haben gesehen, dass Schülerinnen und Schüler zu sehr viel mehr Selbstständigkeit in der Lage sind, als wir uns gedacht haben. Wir haben ihnen ja auf einmal einen Haufen zugemutet, was wir ihnen früher nie abverlangt hätten. Sie haben ja auch gelernt, viel gelernt über uns, die Welt, Gesellschaft, Krankheit, über alles Mögliche, das unheimlich wichtig ist. Sie haben nur nicht im gleichen Umfang wie gewollt den Schulstoff durchkauen können. Nur werden deswegen jetzt so vielen Kindern und Jugendlichen Defizite bescheinigt.
Was wird denn übersehen bei diesen Kindern?
Das sind möglicherweise Kinder und Jugendliche in einer schwierigen familiären Situation, vielleicht war einer Covid-krank oder hat den Arbeitsplatz verloren. Wir alle wissen auch, wie schwierig das ist, Kinder und Heimarbeitsplatz zu versöhnen. Diese Kinder haben unter schwierigen Bedingungen sehr viel geleistet. Auch die meisten Lehrkräfte. Da ist ein enormes Potenzial an Fähigkeiten und gutem Willen, das im Standardbetrieb nicht genutzt wird. Weil da viel zu wenig Platz ist, mal was anderes zu machen als sonst.
Sie sehen also Potenzial für Veränderung. Wie können Schulen das denn im aktuellen Schulsystem leisten?
Die Lehrer, Schüler und Familien sollten sich zusammenfinden und schauen: Was ist das Richtige für uns? Dieses Potenzial sollte man jetzt nicht verkommen lassen. Denn die Krise hat gezeigt, dass sehr viel mehr Potenzial in unserem Schulwesen steckt, als gehoben wird. Das nutzt man aber nicht, indem man den Schulen noch mehr Vorschriften macht und noch mehr Standards vorgibt und noch mehr Erwartungen hat. Dadurch erstickt man doch jegliche Bereitschaft, neue Dinge und Ideen auszuprobieren. Die Konsequenz im System dürfte also nicht sein: zurück zum sinnlosen Pisa-Wettlauf. Sondern die Energie, die im Schulwesen steckt, blühen und wirken zu lassen. Ich glaube, da ist ganz viel möglich, wenn man die Leute nur machen ließe.
Sonja Peitler-Hasewend