Stromaufwärts Richtung Ursprung ist die Drau erst braun, dann grün, dann blau und schließlich glasklar türkis. Vom italienischen Südtirol kommend trifft sie bald nach der Landesgrenze auf einen kleinen Bach, der als sogenannter Arntalbach irgendwo im Defereggengebirge entspringt. Zuvor hat der 25 Kilometer lange Gebirgsbach bereits 1350 Höhenmeter und zwei Hochtäler überwunden. Fährt man taleinwärts, verlässt er es gleichzeitig in stürmischer Manier, mit dem fernen Ziel des Schwarzen Meeres. Der Villgratenbach - wie er weiter stromabwärts heißt - rauscht dabei auch am Ausreisekontrollpunkt der Gemeinde Innervillgraten vorbei. Mehrere Verkehrsleitkegel und ein Sonnenschirm machen an der einzigen Ortseinfahrt- bzw. ausfahrt auf die besondere Situation des 950-Seelen-Dorfes aufmerksam: Ein Wert über 1000 bedeutet die höchste 7-Tage-Inzidenz Österreichs aktuell.
Die Sonne strahlt auf das Gemeindeamt, das sich mit dem Tourismusbüro ein landschaftstypisches Gebäude, ganz im Stil eines traditionellen Holzbauernhofes, teilt. Weit weniger ins Landschaftsbild passt dagegen die neu eingerichtete Corona-Teststation eine Ecke weiter: Ein schmuckloser, steril-wirkend weißer Anhänger, bei dem sich alle Personen im Ort den notwendig gewordenen Ausreisetest besorgen können. Ist man bereits genesen und kann eine Teilimpfung vorweisen oder ist bereits doppelt geimpft, entfällt die Ausreisetestpflicht. Doch so überdurchschnittlich hoch das Inzidenzgeschehen im Ort ist, so unterdurchschnittlich präsentiert sich hier die Durchimpfungsrate mit nur rund 39 Prozent.
Ein Weg des Widerstandes
Dass das Dorf im inneren Villgratental schon immer besonders war, beweist der Blick in die Vergangenheit: Bei der Abstimmung über den Anschluss an Hitlerdeutschland 1938 gab es in der von den Hohen Tauern eingekesselten Gemeinde österreichweit die wenigsten Ja-Stimmen. "Wir haben auch gegen den EU-Beitritt gestimmt", fügt Josef Lusser lachend hinzu. Er ist seit 26 Jahren Bürgermeister der Gemeinde Innervillgraten. "Es ist schon so, bei allem etwas neu daherkommt: Bei den Ersten müssen wir nicht dabei sein", lässt Lusser in die Mentalität der Innervillgrater blicken. Man sei bis jetzt auch relativ gut damit gefahren. Bis jetzt. Denn bei den regionalen Verschärfungen ist man diesmal erst recht bei den Ersten dabei.
Die Maßnahmen gehen für den ÖVP-Bürgermeister jedenfalls in Ordnung: "Wo ein Herd ist, muss man zusperren. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und noch mehr zwischen Geimpften und Ungeimpften differenzieren." Eine Dorfbewohnerin zeigt sich einerseits unbeeindruckt von der Entwicklung, andererseits aber durchaus vom Zeitpunkt überrascht: "Erst zu Schulbeginn", habe sie mit mehr Fällen gerechnet. Sie selbst sei noch ungeimpft und wolle noch einen Totimpfstoff abwarten. "Ich bin aber keine Impfgegnerin", beteuert sie fast schuldbewusst. Wenn es im Herbst immer noch keinen anderen Impfstoff gebe, dann würde sie auf das bestehende Angebot zurückgreifen. Das allein ist aber nicht des Rätsels Lösung im Hinblick auf die niedrige Impfquote in der Gemeinde. Hinter vorgehaltener Hand erfährt man, dass sich ein großer Teil der Dorfgemeinschaft partout nicht impfen lassen will.
Warum? Im Kreislauf der Natur wirkt die Gefahr des Virus nicht so unmittelbar wie anderswo, weiß ein hiesiger Bauer: "Viele sagen, ich komm' eh nicht raus. Dabei vergessen sie aber auf ihre Kinder oder Enkel." Wer fernab des Weltgeschehens wohnt, lässt es wohl auch ungern an sich ran. Dass man jetzt in der Situation ist, in der man eben ist, sei dennoch nicht nur auf die niedrige Durchimpfungsrate zurückzuführen. In den großen Höfen wohnen meist mehrere Generationen in großen Haushalten zusammen. "Dann braucht nur einer das Virus einschleppen", seufzt Lusser. Ob man früher Alarm schlagen hätte können? "Zuerst war in ganz Osttirol viel, dann fängt man an auf seine eigene Gemeinde zu schauen: 15, 16, 17 Fälle – und dann war‘s schon g'falt."
Bergluft mit Textil
Im Ort tummeln sich auch einige Urlauber, vorwiegend aus Deutschland und Italien. Die Ausreisetestpflicht kam für sie überraschend, "es ist aber kein Problem, wir waren sowieso auf Testen eingestellt." Doch nicht alle Ausflügler nehmen die Nachricht über die Testpflicht so locker auf, weiß man beim Test-Mobil: "Viele sind aufgebracht und geben uns die Schuld, vor allem wenn sie im Zuge der Kontrolle zurückgeschickt werden." Laut einer ersten Zwischenbilanz seit Inkrafttreten der Verordnung wurden nach zwei Tagen 2500 Personen kontrolliert, 60 wurde die Ausreise untersagt. Darunter auch Einheimische: Ein Bauer muss mit seinem Traktor samt Gestell umdrehen, obwohl seine abzuholenden Siloballen in Sichtweite zur Ortsausfahrt liegen.
Trotzdem: Bei den Kontrollpunkten in den betroffenen Gemeinden Innervillgraten und Oberlienz, die von Polizei und Bundesheer partnerschaftlich betreut werden, berichtet man größtenteils von Akzeptanz für die Auflagen. "Im Dialog mit den Bürgern und dem erforderlichen Einfühlungsvermögen für die betroffenen Menschen, aber dennoch mit unabdingbarer Konsequenz" leiste man seinen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung, erklärt Silvester Wolsegger, Bezirkspolizeikommandant von Lienz. Dass die Impfquote in einzelnen Regionen verhältnismäßig sehr gering ist, ist für den studierten Gesundheitswissenschaftler keine Überraschung. Schon über die gesamte Pandemie konnte man anhand der polizeilichen Tätigkeiten beobachten, dass "die Corona-Skepsis teils durchaus bedenklich ausgeprägt war."
Aber auch Rest-Osttirol ist von regionalen Verschärfungen betroffen, wenn auch nicht abgeriegelt. Im Handel und bei Veranstaltungen trägt man wieder FFP2-Maske, zudem kommt bei Veranstaltungen eine Registrierungspflicht und eine Obergrenze von 100 Personen. Die Händler in der Lienzer Altstadt berichten bereits an Tag eins mit den neuen Regelungen von weniger Kunden. Vor den Geschäften säumen jedoch jede Menge Touristen die Fußgängerzone.
Aus Vorsicht tragen einige von ihnen auch Maske, "ohne wäre es schöner, die frische Bergluft schmeckt anders." Was beim Bummeln auffällt: Man hört kaum ein deutsches Wort; und das ist ausnahmsweise keine Anspielung auf den Osttiroler Dialekt. Schließt man beim Kaffeetrinken die Augen, kann man sich ohne Probleme an die Adria nach Italien träumen. Ein Hustenanfall am Nebentisch reißt aber jäh aus dem Tagtraum und man muss wieder mit der Drau vorliebnehmen. Immerhin mit der türkisen.
Simon Rothschedl