Warum machen sich viele Flüchtlinge jünger?
18 ist die ausschlaggebende Zahl in einem Asylverfahren. Mit ihr entscheidet es sich, ob Flüchtlinge in Heimen oder betreuten Wohngruppen untergebracht werden, ob sie ihre Familie nachholen dürfen und ihnen eine Ausbildungschance zusteht.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlingen habe nämlich besondere Rechte. Sie müssen nicht nur im Asylverfahren kindgerecht behandelt werden, sondern benötigen auch eine kindgerechte Unterbringung und Betreuung sowie eine ideale Aus- oder Weiterbildung, betont das Flüchtlingshilfswerk UNHCR Österreich.
Wie kann man so einfach sein Alter verändern?
Flüchtlinge haben nur selten Papiere dabei. Diese sind in der Heimat zurückgeblieben, wurden für Kinder oft gar nicht ausgestellt - oder werden auf der Flucht auf Anraten der Schlepperorganisationen weggeworfen, damit die Chancen auf Asyl steigen. In manchen Fällen sind die Dokumente auch gefälscht.
"Es ist teilweise absurd. Uns sitzen gestandene Männer mit Vollbart und grau melierten Haaren gegenüber, die behaupten, 17 Jahre alt zu sein", schildert ein Polizeibeamter aus Traiskirchen. In Berlin flog kürzlich ein ganz extremer Fall auf, da hatte sich ein 19-jähriger Afghane mit Bartwuchs als Zwölfjähriger ausgegeben und dementsprechend eine Schule besucht - wo er fleißig mit Drogen dealte.
Wie kann man die Altersangaben ohne gültige Dokumente überprüfen?
Selbst wenn der Schwindel ganz offensichtlich ist, darf die Polizei in der Erstaufnahmestelle nicht darauf reagieren und die Person als volljährigen Flüchtling einstufen.
Das funktioniert mittels forensischer Altersdiagnostik durch medizinische Sachverständige oder Institute, beispielsweise das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Graz. Bei einer medizinischen Untersuchung werden mittels Röntgen, Computertomographie oder Magnetresonanztomographie jene Körperregionen untersucht, die Aufschluss auf das Wachstum bzw. die körperliche Entwicklung der zu Untersuchenden geben. Anhand des Entwicklungsstandes der Wachstumsfugen der Fingerknochen, der Weisheitszähne und des Schlüsselbeins kann das Mindestalter geschätzt werden.
Wie sieht es rechtlich damit aus? Kann eine Untersuchung, beispielsweise wegen der Strahlenbelastung, abgelehnt werden?
Zum Zweck der Altersbestimmung kann vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl oder vom Bundesverwaltungsgericht eine multifaktorielle Untersuchung angeordnet werden. Zwangsmittel zur Mitwirkung des Betroffenen an einer radiologischen Untersuchung dürfen laut Innenministerium nicht eingesetzt werden - wegen der Wahrung der Menschenwürde und der körperlichen Integrität.
Wie viele Fälle des Betrugs mit dem Alter gibt es im Schnitt pro Jahr?
Mehrere hundert Asylwerber geben sich jährlich in Österreich als minderjährig aus, obwohl sie bereits erwachsen sind, zeigt ein Blick in die Statistik. In den Hochjahren nach der Flüchtlingswelle von 2015 waren es sogar weitaus mehr: 2016 hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bei 2252 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen den begründeten Verdacht, dass ihre Altersangaben nicht stimmen. In 41 Prozent der Fälle bestätigte sich dieser. 2015 wurde in 2826 Fällen ein Altersdiagnosegutachten in Auftrag gegeben, derzeit sind es rund 500 jährlich - wovon bei 61 Prozent das angegebene Alter nicht stimmt.
Wie teuer kommt die Alterslüge dem Staat und damit den Österreichern?
Schon die forensischen Untersuchungen kommen teuer, kosten sie doch knapp 900 Euro pro Person. Allein für das Jahr 2016 mit seiner Höchstzahl an Fällen waren das rund drei Millionen Euro. Weitaus höher sind allerdings die Ausgaben für altersgerechte Unterbringung und Betreuung der vermeintlich Jugendlichen. Laut Bundeskanzleramt, Abteilung Kinderrechte, werden für jeden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling monatlich 2898 Euro ausgegeben, für Kinder unter 14 sind es sogar 5068 Euro.
Hat ein derartiger "Betrug" für die Betroffenen strafrechtliche Konsequenzen?
"Es gibt keine automatischen Rechtsfolgen", erklärt das Innenministerium. Allerdings drohen Geldstrafen von bis zu 5000 Euro, wenn man durch falsche Angaben zu einem Aufenthaltstitel kommt.
Wegen Erschleichung von Sozialleistungen kann die Staatsanwaltschaft jedoch Anklage erheben, wenn die angeblich Minderjährigen behördlich als volljährig erklärt wurden. Die Verurteilungen halten jedoch nicht immer, so wurde in Salzburg ein Angeklagter freigesprochen, weil er glaubwürdig machte, er würde selbst nicht genau wissen, wann er geboren wurde.
Und welche Folgen hat eine Volljährigkeitserklärung für das Asylverfahren?
Im Zulassungsverfahren verlieren die Betroffenen die Rechtsvertretung im Asylverfahren, betont die Asylkoordination Österreich. Eine Rückführung in ein anderes EU-Land aufgrund der Dublin-Zuständigkeit kann erfolgen, außerdem der Verlust der adäquaten Betreuung in einer Betreuungseinrichtung spezialisiert auf "Fluchtwaisen".
Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gibt es eigentlich in Österreich?
Darüber scheiden sich die Geister. Während Innenminister Karl Nehammmer (ÖVP) vergangenen Dezember erklärte, Österreich hätte 2020 mehr als 5000 jugendliche Flüchtlinge aufgenommen, was die zweithöchste Zahl an Asylverfahren von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in der EU darstellen würde, bezweifeln NGOs diese Angaben. Es gebe nur wenige hundert Anträge, so die Asylkoordination Österreich. Laut Bundeskanzleramt liegt die Zahl der Anträge von unbegleiteten Minderjährigen wieder bei dem langjährigen Durchschnitt von 2004 bis 2013 und damit bei knapp 400.
Woher stammen die meisten minderjährigen Flüchtlinge in Österreich?
Unbegleitete minderjährige Asylsuchende in Österreich stammen zu einem großen Teil aus Afghanistan, gefolgt von Kindern aus Syrien, dem Irak oder Somalia. Ihre Zahl ist aber offiziell im Sinken: Während im Jahr 2016 knapp 4000 unbegleitete Minderjährige einen Asylantrag in Österreich gestellt haben, waren es 2018 knapp 500. Der Anteil der männlichen Asylwerber liegt je nach Jahr bei 85 bis 95 Prozent.
Zurück zum Fall Leonie: Ändert die falsche Altersangabe bei einer Verurteilung etwas für den angeklagten Afghanen?
Vor Gericht ist der Unterschied zwischen 16 oder 20 Jahren nicht allzu groß: Die Höchststrafe bei Mord oder Vergewaltigung mit Todesfolge oder Missbrauch mit Todesfolge liegt bei 15 Jahren Haft. Lebenslange Haft droht einem Verdächtigen erst ab 21 Jahren. Seit 2020 können bei besonders schweren Straftaten junge Erwachsene (18 bis 21 Jahre) allerdings zu 20 Jahren Haft als Höchststrafe verurteilt werden.
Wie rechtfertigte sich der vermeintlich 16-Jährige zum Ergebnis seiner Altersfeststellung?
Laut seinem Anwalt Mathias Burger mache er "keinesfalls den Eindruck eines 18- bis 20-Jährigen". Er zeige sich "vom Tod Leonies sehr betroffen und weine sehr viel".
Daniele Marcher