Die Gewalt an Frauen scheint sich auszubreiten. Teilen Sie diesen Eindruck?
REINHARD HALLER: Tötung ist immer nur die Spitze des Eisberges. Ob Gewalt zugenommen hat, lässt sich nicht so einfach sagen. Bemerkenswert ist aber, dass Frauen häufiger Opfer werden als Männer. Die Morde sind seit den 80ern deutlich zurück gegangen, das betrifft aber hauptsächlich männliche Opfer. Im Vergleich mit vielen anderen Ländern haben wir in Österreich aber immer noch relativ wenige Tötungsdelikte. Anderswo sind bis zu 90 Prozent der Tötungen auf kriminelle Milieus zurückzuführen. Das gibt es hier kaum. In Österreich findet tödliche Gewalt meist innerhalb der Familie oder den eigenen vier Wänden statt. Auch dieser Umstand begünstigt, dass Frauen gefährdeter sind.
Eine weitere bemerkenswerte Entwicklung ist, dass die Tötungen im Land immer motiv-ärmer sind. Wir haben weniger Sexualmorde, weniger Kurzschlusshandlungen und Affekthandlungen. Dafür beobachten wir seit ein paar Jahren, dass Morde an Frauen immer gezielter und offener ablaufen. Die Täter heute sind oft nicht mehr so fassungslos angesichts ihrer Handlungen.
Das klingt nach einer beunruhigenden Entwicklung. Worauf ist das zurückzuführen?
Diese Tendenz beobachten wir auch international. Taten scheinen aus immer geringeren Motiven begangen zu werden. Ich glaube, wir unterschätzen, wie verletzlich die Täter oft sind, wie groß die Angst vor Zurückweisung auch bei den scheinbar so harten Männern ist. Viele dieser Täter berichten im Nachhinein von subjektiv hohem Leidensdruck. Wenn wir das nicht ernst nehmen, werden wir am Problem auch nicht viel ändern können. Der Schutz der Opfer ist unerlässlich und muss auch weiter ausgebaut werden. Aber wir müssen uns viel intensiver mit den Tätern befassen – und das sind im Bereich der Gewaltdelikte zu 90 Prozent Männer.
Sind Männer heute empfindlicher?
Wenn es so ist, geben sie es jedenfalls nicht zu. Oft nicht einmal vor ihrem besten Freund oder engsten Vertrauten in der Familie. Da kann sich vieles aufstauen. Umso wichtiger wäre auch professioneller Rat. Zumindest hier können wir uns einmal etwas von den USA abschauen, dort ist regelmäßiger Austausch mit einem Therapeuten etwas ganz Normales. Hierzulande gilt das oft immer noch als ein Zeichen von Schwäche.
Unser Bild von Männlichkeit ist also ein Problem.
Wir sollten uns meiner Meinung nach auf folgende Punkte konzentrieren. Wenn es Anzeichen auf eine gewaltsame Eskalation gibt, müssen sowohl die möglichen Opfer als auch die Gefährder niederschwellige Hilfe in Anspruch nehmen können, ohne gleich zur Polizei gehen zu müssen. Das heißt, das bestehende Angebot muss erweitert, aber auch bekannter gemacht werden. Immerhin kündigen 80 Prozent der Gefährder ihre Taten vorher an. Wir dürfen nicht immer erst warten, bis etwas passiert ist. Zum anderen müssen wird das angesprochene Männerbild in der Gesellschaft ändern. Es hat sich zwar schon einiges getan – in meiner Jugendzeit wäre es noch sehr ungewöhnlich gewesen, einen Mann hinter Kinderwagen oder Wickeltisch zu sehen –, aber der Weg ist noch weit. Es muss bei allen ankommen, dass auch ein gestandener Mann Hilfe in Anspruch nehmen darf. Aber das wird noch einige Zeit brauchen.
Ein weiterer Punkt ist, dass rund 40 Prozent der Gewalttäter aus dem Ausland oder einem anderen Kulturkreis kommen, wo Frauen an sich einen anderen Stellenwert haben können. Auch das muss man ansprechen dürfen – natürlich ohne gleich alle in einen Topf zu werfen.
Häufig wird nach Gewalttaten auch der Ruf nach schärferen Strafen laut.
Ja, die Frage ist, ob das so sinnvoll ist. Immerhin wissen die Täter meist schon vorher, mit welchen Konsequenzen sie rechnen müssen. Das hält sie ja offenbar nicht ab.
Wie viel Verantwortung trägt die Politik an der Entwicklung – und wie sinnvoll ist die Schuldfrage hier überhaupt?
Da treffen Sie einen wunden Punkt bei mir. Schuld ist in erster Linie immer der Täter, vielleicht noch sein Umfeld. Immer nur der Politik den Schwarzen Peter zuzuschieben, halte ich nicht für zielführend. Trotzdem muss man festhalten, dass es beschämend ist, wenn etwa unsere Frauenhäuser viel zu wenig Budget haben.
Was können Einzelpersonen tun, um dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Wir sollten Kränkungen ernster nehmen und auch darüber sprechen. Ich will Täter in keiner Weise entschuldigen, aber wir Menschen sind nun mal sehr empfindliche Wesen. Oft steht Liebesentzug hinter diesen Gewalttaten. Machen wir uns bewusst, dass eine wahrhaft starke Person diese Kränkungen und Zurückweisungen aber auch überwinden und daran wachsen kann. Wir leben im Zeitalter des Narzissmus. Das muss per se nichts Schlechtes sein. Aber zum Narzissmus gehört die Kränkbarkeit untrennbar dazu. Buddhisten sagen: "Dein größter Feind ist dein bester Lehrer." Ich bin davon überzeugt, dass die größte Kränkung die beste Lehre sein kann. Das Überwinden von Kränkungen ist ein persönlichkeitsbildender Faktor ersten Ranges. Wie wir mit diesen Kränkungen und unseren Schwächen umgehen, definiert letztlich, ob wir wirklich starke Persönlichkeiten sind oder werden. Oder ob wir unseren Selbstwert von der Entwertung anderer abhängig machen.
Matthias Reif