Eine Reihe von Frauenmorden sorgt in Österreich für Aufregung. Nachdem in diesem Jahr bereits 27 weibliche Todesopfer im Alter von sechs bis 87 Jahren zu beklagen sind, wird erneut über Gewaltprävention und mehr Schutzmöglichkeiten für bedrohte Frauen diskutiert. In diesem Zusammenhang wir oftmals behauptet, dass Österreich das einzige EU-Land sei, in dem mehr Frauen als Männer getötet werden. Dies berichten sowohl heimische (1,2) als auch ausländische Medien (3,4).
Ebenfalls wird in Sozialen Netzwerken behauptet, dass Österreich Spitzenreiter bei Frauenmorden ist (5). EU-weit sollen hierzulande die meisten Frauen getötet werden (6).
Ist es aber nun tatsächlich wahr, dass Österreich das einzige Land in der EU ist, in dem jährlich mehr Frauen als Männer getötet werden?
Betrachtet man die EUROSTAT-Daten zu Mordopfern aus dem Jahr 2017 (7) - in diese Daten können aber nicht nur Morde, sondern auch Tötungen einfließen - dann war Österreich tatsächlich das einzige von 37 Ländern mit veröffentlichten Daten, in dem mehr derartige Delikte an Frauen als an Männer gemeldet wurden.
Blickt man auf andere Jahre, gilt dies jedoch nicht. Bei den aktuellsten vorliegenden EUROSTAT-Daten aus dem Jahr 2018 (im Jahr 2020 veröffentlicht) zeigt sich neben Österreich auch in Lettland, Malta und der Schweiz ein größerer Anteil an weiblichen Mordopfern, in Ungarn und Slowenien war das Verhältnis gleich. In der Schweiz war der Anteil der weiblichen Opfer mit 28 von 50 Mordopfern größer als der in Österreich mit 44 Frauen unter 86 Mordopfern.
Österreich ist aber das einzige Land, das im Zeitraum mit den aktuellsten Daten von 2016 bis 2018 durchgehend einen größeren Anteil von Frauen unter den gesamten Mordopfern hatte als Männer. Auch im Jahr 2014 und 2011 kam es zu einer derartigen Gewichtung. In den Jahren von 2009 bis 2018 war Österreich laut diesen Daten aber nur im Jahr 2017 das einzige Land mit einer solchen Statistik unter den ausgewerteten Ländern.
Mordrate an Männer im Vergleich gering
Eine bessere Vergleichbarkeit bei Frauenmorden in den Ländern zeigt die Mordrate pro 100.000 Einwohnern. Reiht man alle ausgewerteten Länder in der Datenbank nach dieser Quote, belegt Österreich bei Morden an Frauen im Jahr 2014 die 24. Position unter 33 ausgewerteten Ländern, im Jahr 2015 die 28. Position unter 36 Ländern, im Jahr 2016 die 17. Position unter 36 Ländern und im Jahr 2017 die 16. Position unter 35 Ländern. Nur im Jahr 2018 lag Österreich weiter vorne, auf der achten Position unter 32 Ländern.
Bei Männern sieht die Lage deutlich anders aus. Hier findet sich Österreich meistens ganz am Ende der Reihung, also bei den Ländern mit der geringsten Mordrate. Im Jahr 2014 belegte Österreich bei männlichen Opfern die 31. Position unter 33 Ländern, im Jahr 2015 die 34. Position unter 36 Ländern, im Jahr 2016 die 33. Position unter 36 Ländern und im Jahr 2017 die 31. Position unter 35 Ländern. Auch hier zeigt sich nur im Jahr 2018 ein deutlicher Anstieg mit Position 24 unter 32 Ländern.
Auch bereinigte Statistik zeigt Unterschied
Beim Vergleich zwischen den Ländern müsse man jedoch die unterschiedlichen Melde-Arten der polizeilichen Quellen berücksichtigen. EUROSTAT unterscheidet hier in drei Meldungsformen: Erstens Straftaten, die bei der Polizei gemeldet werden (INPUT), dann Straftaten, die gemeldet, aber noch nicht untersucht wurden (PROCESSING) und zuletzt Straftaten, die bereits untersucht wurden (OUTPUT). Österreich meldete laut den Informationen zur EUROSTAT-Methodologie wie zehn weitere Länder auf die letzte Art und Weise, also nur untersuchte Fälle (OUTPUT). Dies ist vor allem für die Daten zum Geschlecht von Tätern und Verdächtigen relevant, die sich in derselben Datenbank finden lassen. Aber natürlich könnten OUTPUT-Länder grundsätzlich weniger Fälle melden als Länder mit der INPUT-Variante.
Bereinigt man die Statistik um diesen möglichen Bias und betrachtet nur die Daten der OUTPUT-Länder, also die Fälle mit abgeschlossener Untersuchung, zeigt sich, dass Österreich bei Frauenmorden im Jahr 2009, 2011, 2016 und 2018 im obersten Drittel der meisten weiblichen Mordopfern pro 100.000 Einwohnern gelegen hat. Im Jahr 2009 wurde hier die höchste Quote unter den Vergleichsländern verzeichnet, 2018 die zweithöchste. In den Jahren 2012, 2013, 2014, 2015 und 2017 lag diese Quote in der unteren Hälfte der Vergleichsländer, 2015 belegte man hier sogar die letzte Position.
Bei männlichen Opfern lag die Quote bis auf das Jahr 2009 immer in der unteren Hälfte. Das Jahr 2013 war dabei das einzige Jahr, in dem Österreich bei einer Reihung nach der Quote ermordeter Männer im Vergleich zu anderen OUTPUT-Ländern höher positioniert war als bei der Quote ermordeter Frauen. Im Jahr 2014 und 2015 nahm man dieselbe Position im Ländervergleich ein.
Quote bei den Frauenmorden im Mittelfeld
Betrachtet man die Jahre, in denen es in Österreich mehr Morde an Frauen als an Männern gab, fällt auf, dass die Männer-Quote in den betroffenen Jahren 2010, 2014, 2016 und 2017 augenscheinlich im Vergleich zu anderen Ländern besonders gering war. Die Quote bei Frauenmorden lag hingegen meistens im Mittelfeld der Vergleichsländer. Im Jahr 2018 lag die Rate bei Männern im Mittelfeld, die Rate bei Frauen war deutlich erhöht.
Auch bei den standardisierten Mordraten nach Geschlecht von EUROSTAT (8) zeigt sich ein Unterschied. Während die Rate männliche Opfer größtenteils am unteren Ende im Vergleich mit den anderen Ländern liegt, belegt die österreichische Rate an Frauenmorden vor allem in den letzten Jahren eine höhere Position.
Mordreduktion durch Sicherheit betrifft Frauenmorde nicht
"Um sichere Aussagen zu treffen, müsste man die Tötungsdelikte einzeln analysieren", sagte Adelheid Kastner, Expertin für Forensische Psychiatrie. Ihrer Erfahrung nach werden Männer häufig im Rahmen krimineller Subkulturen wie Bandenkriminalität, bei eskalierenden Streitigkeiten oder unter Alkoholeinfluss getötet. Da Österreich ein sicheres Land und das Mitführen von Tötungswerkzeugen wie Faustfeuerwaffen oder Messern hier eher unüblich sei, liege die Tötungsrate bei Männern im EU-Vergleich auch sehr niedrig.
Bei Frauen sind die Rahmenbedingungen bei Morden anders. Frauen würden überwiegend im Kontext von Beziehungen getötet, so Kastner: "Dahinter stehen häufig dysfunktionale Bilder der männlichen und der weiblichen Rolle bzw. sind diese Tötungsdelikte häufig (natürlich nicht immer) der Endpunkt einer von Seiten des Mannes schon lange mit Gewaltanwendung geführten Beziehung, weshalb es zu kurz greift, sich nur auf die Tötungsdelikte zu konzentrieren." Um dem Thema gerecht zu werden, müsste man auch versuchte Tötungsdelikte und schwere Körperverletzungen im Beziehungskontext erfassen.
Zunahme "motivarmer" Delikte
Reinhard Haller erklärt als forensisch-psychiatrischer Gerichtsgutachter die niedrige Mordrate an Männern ähnlich. Wenn man die Daten zu Tötungsdelikten richtig interpretiere, sei nicht ein scheinbarer Anstieg an Femiziden auffällig, sondern "die geänderte Art der Taten". Österreich habe traditionell durch überschaubare kriminelle Strukturen eine geringe Rate an Tötungsdelikten, weshalb Beziehungsdelikte dominierten.
Neu sei dabei die auch international beobachtbare "Zunahme motivarmer Delikte bzw. des Missverhältnisses zwischen Tatauslöser und Schwere der Gewalttat". Grund dafür sei unter anderem ein gestiegener gesellschaftlicher Narzissmus, insbesondere narzisstische Kränkbarkeit bei Männern sowie scheinbarer Machtverlust mit Angst vor Liebesentzug und nicht zugegebene Verletzlichkeit. Daher stünden bei Femiziden mittlerweile weniger Sexualmorde oder Affektdelikte im Vordergrund, sondern Morde, die von Tätern geplant und aus Rache ausgeübt werden. Täter schienen danach kaum erschüttert und begingen keinen Suizid.
"Eine geschlechtsspezifische Besonderheit auf Täterseite ist sicher die Tatsache, dass Männer viel kränkbarer und verletzlicher sind, als sie es nach außen zeigen (dürfen), und dass das männliche Geschlecht mit Spannungen, vor allem der Angst vor Liebesentzug, nicht konstruktiv umgehen kann", so Haller. Daraus ergebe sich die Wichtigkeit, mit den präventiven Maßnahmen vor allem auch auf Seiten der potenziellen Täter anzusetzen, nicht nur der Opfer.
Aussagekraft der Daten umstritten
Birgitt Haller, Leiterin des Instituts für Konfliktforschung in Wien, steht einer Aussagekraft der Länderdaten kritisch gegenüber. Zum einen werde in den EUROSTAT-Daten keine Unterscheidung zwischen Frauenmorden und Femiziden im engeren Sinn getroffen. Zum anderen lägen die Daten nur bis zum Jahr 2018 vor. Dadurch ließen sich aktuelle Entwicklungen nicht wirklich einschätzen. Im Jahr 2018 sei Österreich bei der Rate an Frauenmorden etwa durchaus im vorderen Feld zu finden, weshalb Daten aus den Folgejahren interessant wären.
Auch Haller teilt die Einschätzung, dass sich steigende Sicherheit und geringere kriminelle Aktivitäten vor allem auf Morde gegen Männer reduzierend auswirken. Frauen seien im Vergleich dazu nicht so sehr von Gewalt im öffentlichen Raum betroffen, sondern vor allem im privaten Bereich gefährdet.
Auf eine vorsichtige Interpretation der EUROSTAT-Daten weist auch Isabel Haider vom Institut für Strafrecht und Kriminologie hin. Ein Problem sei, dass es Unterschiede bei den nationalen Definitionen der Delikte gibt. Zwar gebe es ein Klassifizierungssystem, dadurch dass die Statistik schlussendlich aber auf nationalen Kriminalstatistiken aufbaue, könnten sich Unterschiede ergeben. Auch fänden sich Unterschiede zwischen den EUROSTAT-Daten und Kriminalitätsstatistiken.
Haider verweist auf das unterschiedliche Risiko bei Männern und Frauen, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden. Während die Umstände bei der Mordkriminalität bei Männern sehr heterogen sind, fände Mordkriminalität an Frauen überwiegend zuhause statt und werde hauptsächlich von Männern begangen, mit denen sie in einer engen Beziehung standen. Laut einer Auswertung (9) von Frauenmorden im Tatzeitraum 1. Jänner 2018 bis 25. Jänner 2019 wurden 82,5 Prozent der Frauen durch einen Intimpartner oder Familienangehörige ermordet. Bei Männern betrug dieser Anteil 42,9 Prozent.