Perspektiven fehlen, Konflikte in der Familie häufen sich, es gibt kaum Raum für Freundschaften und erste Liebe, dafür viel zu viel Zeit in der virtuellen Welt: Die Krise hat mittlerweile starke Auswirkungen auf Jugendliche. Sie sind ohnehin in einer schwierigen Lebensphase – der Pubertät –, und diese erleben sie mitten in der Pandemie, in der sogar die Schule als fixer Ankerpunkt fehlt. Wie können wir ihnen helfen, wenn sie sich abschotten, ein gestörtes Essverhalten zeigen oder wir einfach nicht mehr an sie herankommen?
Antworten auf Ihre Fragen dazu hat die Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger, die am Freitagabend unseren Leserinnen und Lesern mit Rat uns Tat zur Seite stand:
Welche großen Sorgen haben Jugendliche?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Es gibt zwei große Themen in der Pubertät: lernen, selbstständig zu sein, und lernen, sich in der zukünftigen Erwachsenengesellschaft zu bewegen. Das muss trainiert werden. Aber das können unsere Jugendlichen jetzt schon lange nicht mehr. Wir haben die Jugendlichen als Erstes und als Längstes wieder in ihr Kinderzimmer geschickt. Die Jugend wird die Brösel der Pandemie aufkehren und die finanziellen Mittel auftreiben müssen.
In einer aktuellen Bertelsmann-Studie geben 45 Prozent der Jugendlichen an, Angst vor ihrer Zukunft zu haben. Drei Viertel der Jugendlichen fühlen sich von der Gesellschaft nicht oder nur wenig gehört. Wir haben Grund zur Sorge.
Meine Tochter (15) zieht sich zurück. Sie isst nur noch wenig und ist sehr dünn geworden. Was kann ich tun?
Die Jugendlichen leben in Zeiten der Pandemie in den sozialen Medien und die sind voller Photoshop-Bilder. Der Realabgleich im Spiegel ist ein umso ernüchternder. Das führt vor allem bei den Mädchen dazu, dass sie nicht mehr ins Klassenzimmer wollen, weil sie Angst haben, dass sie zu dick geworden sind. Sich der Problematik zu stellen und eine Beratungsstelle für Essstörungen aufzusuchen, ist ein wichtiger Schritt.
Hände waschen, desinfizieren, stundenlang Maske tragen, möglichst keine Freunde treffen: Wie kann mein Kind da gut durchkommen?
Es ist wichtig, viel Aufmerksamkeit zu geben. Brettspiele spielen, sich austauschen, gemeinsam spazieren gehen, auch kuscheln: Das sind unsere Werkzeuge, um unseren Kindern ein möglichst normales Aufwachsen geben zu können. Auch müssen wir Stabilität und Zuversicht ausstrahlen: Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir heil aus dem Ganzen herauskommen, viel größer.
Ich glaube, dass mein Sohn (14) sich viele pornografische Videos anschaut. Ich habe Sorge, dass er eine "falsche" Sexualität entwickelt. Er hat kaum die Möglichkeit zu Kontakt mit Mädchen.
Jugendliche können sich mit den Inhalten, die sie da sehen, oft noch gar nicht auseinandersetzen. Eine fragwürdige Geschlechterbeziehung kann heranreifen. Das Thematisieren ist wichtig. Wenn man als Sohn von der Mutter angesprochen wird, ist das schwierig. Der Vater wäre hier wahrscheinlich der bessere Gesprächspartner. Auch lässt es sich oft mit Fremden leichter reden als mit den eigenen Eltern. Eine sexualpädagogische Beratung könnte die Lösung sein.
Mein Sohn (13) war schon vor Corona eher ein zurückgezogenes Kind, jetzt hat er mit fast allen den Kontakt abgebrochen. In den letzten Jahren hatte er immer gute Noten, jetzt tut er sich in der Schule schwer, er ist unmotiviert und hat Kreislaufprobleme.
Ich empfehle unbedingt einen Besuch beim Kinderarzt. Kreislaufprobleme muss man medizinisch behandeln, sie können hinter dem Leistungsabfall stecken. Wenn das ausgeschlossen werden kann, ist es wichtig, ihm Unterstützung zu geben und ihn aus dieser Situation herauszuführen. Man hat Erwachsenen im Lockdown eine Bezugsperson gestattet, bei Jugendlichen, da verlässt man sich auf die Familie. Dabei ist die Kommunikation unter Jugendlichen eine ganz andere. Gerade dieser Kontakt mit "Bezugsjugendlichen" könnte ihm auch helfen.
Seit Beginn der Pandemie flüchtet sich meine Schwester (16) in Tagträume. Sie verbringt oft Stunden in ihren Fantasiewelten. Wie kann ich ihr helfen?
Es gilt festzustellen, welche Dimension die Tagträume haben. Wenn ich davon träume, dass alles vorbei ist, im Sinne einer konstruktiven Projektion, die mich bestärkt, dann ist das in Ordnung. Wenn ich tagträume, um meine Verpflichtungen zurückzudrängen und auszublenden, dann ist dringend Beratung angebracht.
Mein Sohn redet immer weniger mit uns. Ich habe das Gefühl, dass er einsam ist.
Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Wir müssen als Eltern mit gewisser Autorität den Jugendlichen mit sanftem Druck herbeiholen und ihm klarmachen, dass die Familie eine soziale Einheit ist und sich respektvoll austauscht. Gleichzeitig müssen wir klarmachen, dass wir die Privatsphäre respektieren.
Meinen Sohn macht die Situation immer aggressiver. Wie kann ich ihm helfen?
Ich kann ihn verstehen. Mein Leben war mit 15 auch lustiger! Den Jugendlichen wird derzeit alles weggenommen, dass sie mitunter aggressiv reagieren, ist nicht verwunderlich. Es ist wesentlich zu sagen: Ich versteh dich vollkommen, komm mit ins Boot. Wir dürfen den Ärger nicht aufeinander richten. Wir müssen den Jugendlichen klar machen, dass wir hinter ihnen stehen.
In ihrem Institut treffe seit einiger Zeit eine Flut an verzweifelten E-Mails ein, am häufigsten gehe es dabei um Teenager-Themen, erklärt Leibovici-Mühlberger. Immer wieder bietet sie kostenlose Webinare auf ihrer Webseite an, am heutigen Donnerstag geht es genau um die genannten Themen. Zu finden ist das Webinar >> hier <<.
Wieder zeigt auch eine aktuelle Studie auf, dass die Pandemie die psychische Gesundheit der jungen Menschen bedroht: So erklären die Autoren der internationalen Studie (rund 70 WissenschafterInnen aus 21 Ländern waren beteiligt) unter anderem, dass die Gruppe der 15- bis 25-Jährigen weltweit und auch in Österreich die höchste Rate an psychischen Belastungen in der Pandemie zeigt. Und auch davor gab es zahllose Aufschreie von Kinderärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychologen und Pädagogen: Vielen jungen Menschen gehe es schlecht, Depressionen, Essstörungen und Suizide oder Suizidversuche häuften sich stark.