Tirol – so nah, so fern. Diesem einstigen Slogan der Tourismus-Werbung verschaffen die Wirren der Pandemie grausige Urständ. Der Bumerangeffekt ist gleichsam all inclusive. So wie die britische Corona-Mutation bei angeblichen Möchtegern-Skilehrern in Jochberg. Brexskiteers sozusagen. So wie die südafrikanische Covid-Variante in Hochfügen. Womöglich ein Migrant. So wie die mutmaßlich Arbeit suchenden skandinavischen Partytiger in Sankt Anton. We can’t break the Meldegesetz. So wie die vielen Zweitwohnsitz-Skiurlauber in Tirol. Uns sind dagegen die Hände gebunden. So wie die Zillertaler Hoteliers mit Golfurlaub statt Lockdown in Südafrika. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Doch das alles geschieht bei Kitzbühel, im Zillertal, am Arlberg. Also schon irgendwie in Tirol. Von hier wurde es erstmals bekannt. Deshalb zeigen sie alle auf das Land, das noch lieber Erster wäre als die meisten anderen Länder. Der aus kakanischer Großmannssucht erklärbare austriakische Minderwertigkeitskomplex ist in seiner tirolischen Verdichtung und Übersteigerung besonders schwer auszuhalten, weil wir im Spiegel unsere Schwächen bis zum Selbsthass genau wahrnehmen. Um ihn nicht zuzulassen, sehen wir statt uns die anderen. Aktuell also Tirol. Dort ist die gnadenlose Fremdsicht unerträglich für das Selbstbild. Sie ziehen sich zurück auf die schmachvollste Position des eingebildeten Starken – das wehleidige Beklagen ungerechter Angriffe. „Tirol-Bashing“ ist die Ultima Ratio eines ratlosen einstigen Verteidigungs- und Innenministers, der im Triumph als Oberschwarzer heimkehren durfte: Günther Platter, seit Mitte 2008 Landeshauptmann von Tirol.
„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ Mit diesem Gustav Mahler zugeschriebenen Zitat erinnerte Platter heute vor zwölf Jahren unterschwellig daran, dass er einst per Kulturpolitik in die Landesregierung eingestiegen war. Dann sagte er noch: „Die Weitergabe des Feuers muss Motto der Tiroler Volkspartei sein.“ Und wurde zu ihrem Obmann gewählt. Am 31. Jänner 2009 schloss sich für ihn ein Kreis, in dem er eher Figur als Spieler war. Denn mit dem Rücktritt als Bürgermeister von Zams und Nationalratsabgeordneter hatte der Exekutiv- und Wehrsprecher der ÖVP sämtliches vertrautes Terrain aufgegeben. Als Schul-, Kultur- und Sportlandesrat geriet er unvermittelt in einen archaischen Erbfolgekrieg von geradezu Shakespeare’scher Dimension statt einem Format Felix Mitterers, dem Haus- und Hof-Dramatiker aller Tiroler Selbsthinterfragung.
Mittlerweile ist Günther Platter 66, Österreichs aktuell längst dienender Landeshauptmann und hat alle Rivalen längst hinter sich gelassen. Es hätte eine gemütlichere vorletzte Amtsperiode werden sollen, um sich dann 2023 der vornehmlichen Herbstaufgabe aller Patriarchen zu stellen: Mach dir deinen Nachfolger. Doch der oder die ist so wenig in Sicht wie ein Ende der Ungemütlichkeiten.
Und da es auch keinen mehr gibt, der ihn noch leiten könnte, spielt er seit 10,5 Monaten immer stärker die Täter-/Opfer-Umkehr: Schluss mit Tirol-Bashing! Das ist wichtig fürs regionale Selbstwertgefühl. Es wird bis heute geprägt von Trennungsschmerz. Ausgerechnet zwischen den Lockdowns jährte es sich zum hundertsten Mal, dass Südtirol zu Italien kam. Der Vertrag von Saint Germain trat am 10. Oktober 1920 in Kraft. Was in Kärnten der Landesfeiertag zur Volksabstimmung, ist für Tirol wie ein mühsam verheilter Knochenbruch, der bei Schlechtwetter wieder spürbar wird.
Seit Ischgl im März zieht ein Dauertief durchs Land. Alle alten Wunden schmerzen wieder. Dazu gehört vor allem, nicht mehr so groß zu sein, wie man lang war. Das Bundesland hatte bis 1968 weniger Bevölkerung als Kärnten, dem die Exklave des Bezirks Lienz näher ist. Heute liegt es zwar mit 760.000 Einwohnern um 200.000 voran, wäre aber mit Südtirol fast 1,3 Millionen stark – knapp vor der Steiermark.
Um das Zerrbild der eigenen Größe aufrechtzuerhalten, benötigt es Selbstgenügsamkeit. Die natürliche, schroffe Einhausung unterstützt die Menschen hier sowohl bei Überhöhung als auch Verwechslung des Lands im Gebirge mit der Welt. Als Scharnier zwischen Nord und Süd war es schon zu oft ein Opfer fremder Mächte, um alles von außen nicht umgehend als Feind empfinden zu können. Aus dieser historischen Betrachtung ist es eine besonders böse Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Tirol mit 50 Millionen Nächtigungen die am meisten von außen abhängige Region Österreichs ist. Dass so viele hierher reisen, unterfüttert die heimliche Sehnsucht, etwas Besseres zu sein und mehr als andere zu können. Alles richtig gemacht: Diese andernorts mit Kopfschütteln registrierte Phrase eines von Ischgl und Covid überforderten Gesundheitslandesrats findet im Heimspiel nach wie vor große Zustimmung. Eine Umfrage zum Jahreswechsel ortete die Volkspartei auf dem Niveau der Landtagswahl 2018 mit deutlich über 40 Prozent.
Für Günther Platter wirkt das wie eine Bestätigung seines Kurses, die Regierung nicht umgebildet und erst recht keine Neuwahl ausgerufen zu haben. Er büßt zwar enorm an Vertrauen ein, liegt aber klar voran. Nur AK-Präsident Erwin Zangerl kommt ihm nahe, hat aber keine weiteren Ambitionen. Der mit den Grünen regierende Landeshauptmann ist innerparteilich und -koalitionär so unangefochten wie durch die schwache Opposition. Georg Dornauer bleibt zwar eines der größten politischen Talente der Sozialdemokratie, kann aber seine selbst verschuldete negative Wahrnehmung kaum korrigieren. Georg Willi ist zwar Österreichs einziger grüner Bürgermeister, aber seine Innsbrucker Koalition kracht in allen Fugen. Platter hingegen mag sich zwar fühlen wie Günther allein zu Haus, hat aber im innertirolischen Politik-Wettbewerb aus persönlicher Perspektive alles richtig gemacht.
Deshalb ficht den Landeshauptmann nichts an. Darum reagiert er plump-trotzig mit dem Vorwurf des Tirol-Bashings auf Außenfeinde, lässt unterschwellig interne Kritiker als Nestbeschmutzer herabsetzen und fordert ausgerechnet wie der rote Wiener Stammeshäuptling Michael Ludwig eine Lockerung des Lockdowns. Denn er sieht „die Stimmung kippen“. Das mag hier wie dort stimmen, doch Platter sagt es zur Ablenkung von der Pleiten-, Pech- und Pannen-Performance seiner Regierung. Er könnte allerdings unbeabsichtigt im größeren Zusammenhang recht behalten. Seine große Erzählung für Tirol war immer „Es geht uns gut“. Im Bundesland mit der kleinsten Pro-Kopf-Verschuldung und geringsten Arbeitslosigkeit.
Dieses Narrativ verschweigt die Spitzenstellung bei Wohn- wie sonstigen Lebenskosten und das Nachhinken bei den verfügbaren Haushaltseinkommen. Das geht so lange gut, wie das positive Storytelling die matte Kehrseite der Medaille überstrahlt. Wenn aber infolge Covid-19 der Tourismus abstürzt, kracht das Land in allen ökonomischen Fugen. Dann rächt es sich, dass Platter nie einen Wirtschaftslandesrat mit entsprechender persönlicher Kompetenz ermöglicht hat. Der Tourismus hingegen ist Chefsache – ein Ressort des Landeshauptmanns. Es steht und fällt mit ihm. Darum redet Platter von Tirol-Bashing, statt seine schwarzen Schafe besser zu kontrollieren. Ohne diese Herde ist er nicht mehr Hüter. Deshalb pflegt er die Tradition der Anbetung der Asche, anstatt das Feuer weiterzugeben. Dass dieses Zitat nicht von Gustav Mahler stammt, ist eine vergleichsweise leicht verdaubare neue Wahrheit für Tirol.