Ältere Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden. Praxiserfahrungen von Rotkreuz-Mitarbeitern zeigen, dass die Coronavirus-Pandemie die Situation für Betroffene verschärft hat.Demenz und soziale Isolation sind Risikofaktoren für häusliche Gewalt. Das Rote Kreuz forderte gemeinsam mit Experten am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Wien mehr Bewusstsein und mehr Mittel für Prävention.
Viele Übergriffe bleiben unbemerkt, die Dunkelziffer ist laut Experten noch. "Das Thema wird in seiner Dimension leider immer noch unterschätz", sagte Rotkreuz-Generalsekretär Michael Opriesnig. Es müsse besser hingesehen und Vorkehrungen getroffen werden, die "vulnerable Gruppe" müsse besser geschützt werden, forderte Opriesnig verstärkte Prävention, sowohl bei Mitarbeitern von Pflege- und Sozialdiensten, als auch im Gesundheitswesen. Außerdem müsse mehr Forschung durchgeführt werden, "weder auf europäischer, noch auf nationaler Ebene gibt es ausreichend repräsentative Daten", kritisierte der Generalsekretär. Das Rote Kreuz startet nun ein gefördertes Projekt zum Thema, um ältere Frauen zu stärken. In einer ersten Pilotphase sind Informations- und Sensibilisierungsveranstaltungen für ältere Frauen in Wien und der Steiermark geplant. Um betroffene Berufsgruppen noch stärker zu sensibilisieren, bietet das Rote Kreuz Online-Kurse für Mitarbeiter und Freiwillige an.
Übergriffe und Vernachlässigungen
Während bzw. nach dem Coronavirus-Lockdown wurde kein Anstieg an Übergriffen oder Vernachlässigung beobachtet, sagte Monika Wild, Bereichsleiterin Pflege und Betreuung des Roten Kreuzes. Allerdings gab es viele Angehörige, die überfordert und erschöpft waren, da ein Großteil der Arbeit bei ihnen hängen geblieben war. Im März und im April betreuten die Mitarbeiter rund zehn Prozent weniger Klienten, die Dienste wurden von ihnen selbst oder von Angehörigen storniert. Seit Mai laufen die Betreuungen wieder wie zuvor. Da habe das Rote Kreuz viele Anrufe erhalten, "bitte kommt wieder, wir brauchen euch, wir schaffen das nicht", berichtete Wild. Deutlich wurde auch, dass es in der mobilen Pflege und Betreuung nicht nur auf praktische Pflegetätigkeiten ankommt, sondern dass der psychosoziale Kontakt ein wichtiger Part ist, sagte die Expertin.
Generell sei die Abklärung von Übergriffen oft sehr schwierig. "Hämatome können von Medikamenten verursacht werden und die Sturzgefahr ist aufgrund von Instabilität oft viel größer", sagte Wild. Als Indiz könne jedoch herangezogen werden dass Menschen, "die vorher oft redselig und zugänglich waren, plötzlich still sind und sich zurückziehen". Auch bei Angehörigen könne beobachtet werden, dass bei Anzeichen von Gewalt versucht werde, die älteren Personen abzuschirmen.
Birgitt Haller, wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Konfliktforschung (IKF) berichtete aus der Forschung. Zu Jahresbeginn habe das Institut 20 Interviews mit Mitarbeitern der mobilen Pflege und Betreuung, des Rettungsdiensts sowie der sozialen Dienste und des Besuchsdienst in drei Regionen durchgeführt. Der Fokus lag auf dem Thema Gewalt. Im Gesundheitsdienst sind "alle sehr gewaltsensibel", konstatierte Haller. Die Befragten hätten alle diesbezügliche Erfahrungen gemacht und waren gut informiert. Fast alle Befragten hätten selbst Übergriffe durch Patienten erlebt, "vor allem körperliche Übergriffe durch Demenzkranke".
Im Rettungsdienst sei es aufgrund des kurzen Kontakts "wesentlich schwieriger, Gewalt zu erkennen". Auch seien Übergriffe relativiert worden, sowohl von Klienten auf Mitarbeiter, als auch von Kollegen auf Klienten. Im Bereich des sozialen Dienstes und Besuchsdienst wurden drei Personen befragt, zwei hatten einen kritischen Blick, die dritte Person war "überhaupt nicht gewaltsensibel". In diesem Bereich habe sich auch herausgestellt, dass die Meinung vorherrsche, "Ehrenamtliche würden nie Gewalt ausüben". Außerdem fehle auch ein Problembewusstsein Richtung Gewalt, Verdachtsfälle würden "zuerst in die Familie zurückgespielt, weil man sich nicht zu sehr einmischen will".
Der Lockdown während der Coronavirus-Pandemie habe dazu geführt, dass "Frauen weniger Hilfsangebote angenommen haben". Die Angst vor Ansteckung war groß. Außerdem sei "die Scham über Gewalt zu sprechen bei älteren Frauen noch größer als bei jüngeren Frauen", sagte Haller. Frauen schämen sich, wenn sie Gewalt erfahren, "Männer, die Gewalt ausüben, schämen sich nicht", konstatierte Haller.
"Gewalt wird im privaten Nahraum oft verheimlicht. Vorfälle werden als innerfamiliäre Angelegenheiten gesehen. Von Angehörigen lässt man sich viel mehr bieten als von Außenstehenden", sagte auch Josef Hörl vom Institut für Soziologie von der Uni Wien. Demenz, finanzielle Abhängigkeit von Angehörigen und soziale Isolation seien häufige Risikofaktoren für Gewalt gegen ältere Personen. Insbesondere eine Demenzerkrankung stelle ein Hauptrisiko dar, Opfer von Gewalt zu werden. Denn Demenzkranke zeigen selbst häufig bestimmte Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen, die dann in Gegenaggressionen münden, erläuterte Hörl. Außerdem sei "die Grenze, wo Gewalt beginnt, fließend. Vielen ist gar nicht bewusst, dass sie von Gewalt betroffen sind", sagte der Soziologe. "Jede Familie will Konflikte möglichst informell regeln", erläuterte Hörl. Ist der Täter im engsten Familienkreis, wird das nicht nach außen getragen. "Die Hemmschwelle aufgrund der Scham, dass das eigene Kind die Hand gegen einen erhebt, ist sehr hoch", sagte Hörl.