Sind Sie als Oberrabbiner nun eine Autorität, der andere Rabbiner untergeordnet sind, wie Priester dem Bischof?
Jaron ENGELMAYER: Grundsätzlich gilt, dass das Judentum nicht hierarchisch organisiert ist. Als Rabbiner sind wir nur Gott und der Gemeinde gegenüber verantwortlich. In Wien gibt es eine Israelitische Kultusgemeinde (IKG), in der etwa 20 Synagogen vereinigt sind, wobei das ganze Spektrum des Judentums vertreten ist. Es reicht von der ultraorthodoxen und den modern-orthodoxen Ausrichtungen bis zu den Reformsynagogen. Es gibt für jede dieser Synagogen eigene Rabbiner, in deren Arbeit ich mich nicht einmischen werde. Ein Oberrabbiner ist nur für die Gesamtheit der Kultusgemeinde zuständig, die er nach außen vertritt.
Eine persönliche Frage: Warum sind Sie nach Wien gekommen, das doch für Juden eine nicht immer leichte Adresse ist?
(Lacht.) Natürlich ist ein Grund die Sprache und auch der Umstand, dass Wien im deutschsprachigen Raum eine außergewöhnliche Stellung hat. Zudem gibt es mit 8000 Mitgliedern, die in der IKG organisiert sind, ein intensives jüdisches Leben. Auch verfügt Wien über eine gute innerjüdische Infrastruktur.
Ihr Vertrag gilt unbefristet, was wollen Sie langfristig erreichen?
Mir geht es – neben der täglichen Gemeindearbeit – darum, die Gemeinde nach außen hin zu vertreten, Verständnis zu schaffen für jüdische Belange und Brücken zu anderen Religionsgemeinschaften zu schlagen. Ich möchte dafür sorgen, dass jüdisches Leben als etwas Normales wahrgenommen wird und ein Teil des Wiener Stadtlebens ist.
Die Mehrheit der Österreicher, von denen die allermeisten noch nie einem Juden begegnet sind, glaubt zu wissen, was „typisch jüdisch“ ist. Das sind fremdbestimmte Zuschreibungen. Nun frage ich Sie als Juden: Was ist typisch jüdisch?
Typisch ist es, ein Mensch zu sein wie andere auch: mit Stärken und mit Schwächen. Was das Judentum aber besonders ausmacht, ist seine jahrtausendealte Geschichte, die sehr bewusst gelebt wird und wo man sich als Teil von etwas sehr Altem und zugleich Neuem sieht. Andererseits ist es auch ein Wertesystem, das uns seit Jahrtausenden begleitet und das Traditionen mit sich bringt.
Sie wollen zu anderen Religionsgemeinschaften Kontakt halten. Wie ist das Verhältnis zur Katholischen Kirche, die nach der Schoa und vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf der Suche nach Gemeinsamkeiten mit dem Judentum war? Ist Abraham tatsächlich der kleinste gemeinsame Nenner?
Seit der Konzilserklärung „Nostra Aetate“ sind 55 Jahre vergangen. In dieser Zeit ist klar geworden, dass man mittlerweile keine Angst mehr hat, auch über die Unterschiede und das Trennende zu sprechen. Wir müssen ja nicht alle gleich sein, um miteinander reden zu können. In diesem Punkt haben wir große Fortschritte gemacht. Übrigens: Es ist nicht nur Abraham, den wir teilen, es sind viele gemeinsame Werte.
Einer der Unterschiede zwischen Judentum und Katholizismus ist wohl, dass die eine Religion zahlreiche Antworten auf eine einzige Frage parat hat, während die andere von einem strengen Dogmatismus – eine Frage, eine Antwort – geprägt ist. Wie sehen sie diese beiden Systeme?
Gerade das talmudische Judentum regt an, alles zu hinterfragen. Erst kürzlich haben wir in Talmud-Studien, die weltweit betrieben wurden, eine Diskussion geführt, ob es richtig war den Menschen zu erschaffen. Das heißt: Die Weisen debattierten darüber, ob Gott es richtig gemacht hat, uns Menschen zu erschaffen. Der Ausgangspunkt der Diskussion war nicht die These „Natürlich hat er das gut gemacht“, sondern wir blieben bei der offenen Frage. Die Antwort hat schließlich gelautet: Es ist zweifelhaft, ob es gut war, aber da es nun einmal geschehen ist, müssen wir das Beste daraus machen. Daraus folgt: Wir Menschen müssen diesem Anspruch gerecht werden, erschaffen worden zu sein. Das ist ein Beispiel, an dem wir erkennen, wie weit das Hinterfragen gehen kann, wobei die Suche nach Wahrheit an oberster Stelle steht und keine anderen Absichten verfolgt werden dürfen. Der Dogmatismus hingegen zeigt eine Linie vor, wobei es allgemeingültige Werte gibt.
Der israelische Literat Amos Oz schieb einmal: „Er ist einer von uns!“ Gemeint hat er damit Jesus von Nazaret. Welchen Stellenwert hat dieser heute im orthodoxen Judentum?
Er ist aus dem Judentum hervorgegangen und bringt die jüdischen Werte, die er mitgenommen hat, ins Christentum ein. Das ist für uns heute die Brücke, das Gemeinsame zu entdecken.
Wolfgang Sotill