Ein stabiles Hoch klebt an diesem 27. August 2015 über Mitteleuropa. Die Thermometer melden über 30 Grad, für Abend verspricht das 200-Meter-Finale mit Usain Bolt bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Peking Hochspannung. In Graz werden die letzten Vorbereitungen für das „Nuke“-Festival mit 20.000 Besuchern getroffen. In Wien empfängt Bundeskanzler Werner Faymann Staatschefs zur Westbalkankonferenz. Es soll um Beitrittsperspektiven für die Länder aus dieser Region gehen. Bis gegen 13 Uhr eine Eilmeldung aus dem Burgenland die Sommeridylle explodieren lässt.
Einem Asfinag-Mitarbeiter fällt bei Mäharbeiten an der A 4 bei Parndorf (Bezirk Neusiedl am See) ein weißer Klein-Lkw auf, der auf dem Pannenstreifen abgestellt ist. Er sieht etwas aus dem Laderaum heraustropfen. Verwesungsflüssigkeit. Mit den 71 Personen – 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder –, die tot aus dem Kühl-Lkw geborgen werden, ist die tödliche Dramatik der Flüchtlingskrise endgültig in Österreich angekommen.
Es ist tragischer Höhepunkt einer Entwicklung, die sich Monate davor abzuzeichnen beginnt. Bereits am 22. Juni und 17. Juli nimmt die Polizei in Parndorf Schlepper fest, die in ihren Kastenwägen 26 beziehungsweise 48 Personen über die Grenze schleusen wollen.
Genf, 7. Juli 2015.
Laut dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) hat der Bürgerkrieg in Syrien bereits mehr als vier Millionen Menschen aus dem Land vertrieben.
Preševo, 8. Juli 2015.
In der südserbischen Kleinstadt Preševo, dicht an der Grenze zu Mazedonien, treffen täglich bis zu 1000 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ein. Bis Ende Juni wurden alleine in Preševo rund 5000 Asylanträge gestellt, 2014 waren es nur 320.
Griechenland löst in diesen Monaten Italien als Hauptankunftsort der Flüchtlinge ab: Bis Ende Juli 2015 werden es laut EU-Grenzschutzorganisation Frontex 130.000 Menschen sein, an einem August-Wochenende mehr als 21.000, im gesamten Jahr 2016 laut UNHCR 362.753.
Um die illegale Migration zu stoppen, verhandelt die EU daraufhin ein Abkommen mit der Türkei aus, die demnach bis zu drei Milliarden Euro bekommt, um Menschen, die kein Asyl in Griechenland bekommen, zurückzunehmen beziehungsweise den Grenzschutz zu intensivieren. Der Migrationsdruck nimmt jedoch nicht ab. Allein im Februar heurigen Jahres hielten sich 3,6 Millionen registrierte Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei auf.
St. Pölten, 31. Juli 2015.
Das Land Niederösterreich verhängt einen Aufnahmestopp über das mit mehr als 4200 Personen komplett überfüllte Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Asylwerber schlafen am Gelände in Zelten oder unter freiem Himmel.
Heidenau, 23. August 2015.
In der Kleinstadt in Sachsen kommt es zu Straßenkämpfen zwischen rechten Demonstranten und der Polizei. Damit setzt sich eine Reihe von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland fort, die die politische Führung in Berlin in Alarmbereitschaft versetzt. Bundespräsident Joachim Gauck spricht angesichts der Fremdenfeindlichkeit von einem „Dunkeldeutschland“.
Berlin, 25. August 2015.
Deutschland setzt das umstrittene Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge aus. Für ihre „Willkommenskultur“ wird die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bis heute sowohl parteiintern als auch national und international teils heftig kritisiert. Später versucht Merkel, der Bevölkerung Mut zu machen: „Wir schaffen das!“
Eisenstadt, 27. August 2015.
Landespolizeikommandant Hans Peter Doskozil lädt den Militärkommandanten zu einer Krisensitzung. Das Bundesheer soll helfen, Unterkünfte für Polizisten und Versorgungsstationen für Flüchtlinge aufzubauen. Grund: Bis zu 7000 Flüchtlinge werden in den nächsten Tagen an der burgendländisch-ungarischen Grenze erwartet.
Brüssel, 30. August 2015.
Die immer weiter steigenden Flüchtlingszahlen verschärfen den Streit um eine gemeinsame Asylpolitik in der Europäischen Union. Regierungsvertreter aus mehreren EU-Staaten wehren sich gegen Forderungen, ihre Länder sollten mehr Flüchtlinge aufnehmen. Ein Streit, der bis heute schwelt. Eine Statistik des Europaparlaments weist für 2019 in der Europäischen Union 2,712 Millionen anerkannte Flüchtlinge aus, dazu kommen noch einmal 721.000 Asylsuchende. Sie teilen sich sehr unterschiedlich auf die EU-Staaten auf – die Bandbreite reicht von 105 (Estland) über 12.886 (Österreich) bis zu 165.615 (Deutschland).
Budapest, 31. August 2015.
Hunderte Flüchtlinge stürmen in der ungarischen Hauptstadt Budapest Züge in Richtung Wien. Am Abend herrscht Chaos am Wiener Westbahnhof, als die Migranten versuchen, Anschlusszüge nach Deutschland zu erreichen. Kontrolliert wird kaum.
Bodrum, 2. September 2015.
Ein Foto wird zum Symbol für die Unerbittlichkeit der Katastrophe. In der Nähe des türkischen Badeorts Bodrum liegt ein lebloser kleiner Körper, schwarze Haare, rotes T-Shirt, blaue Shorts, in den sanft anbrandenden Wellen. Der dreijährige Aylan Kurdi war auf der Flucht ertrunken.
Wien, 4. September 2015.
Einer der politisch turbulentesten Tage dieses an Turbulenzen nicht armen Sommers. Bundeskanzler Werner Faymann empfängt den ungarischen Botschafter im Kanzleramt. Das Gesprächsklima ist frostig. Einziges Thema: der Umgang und die Pläne Ungarns mit den Flüchtlingen am Budapester Bahnhof. Am Vortag hatten ungarische Beamte Flüchtlingen Fahrkarten nach Österreich verkauft, sie damit in einen Zug gelockt, diesen aber in Bicske knapp hinter Budapest in der Nähe eines Flüchtlingslagers gestoppt. Das lässt bei den wartenden Menschen am Bahnhof die Geduld und Hoffnung schmelzen. Eine kleine Gruppe beschließt, zu Fuß Richtung Wien loszumarschieren. Es sind knapp 170 Kilometer bis zur österreichischen Grenze.
Bei einem EU-Außenministertreffen in Luxemburg macht am Nachmittag der ungarische Außenminister Druck auf seinen österreichischen Amtskollegen Sebastian Kurz und droht, die Flüchtlinge einfach nach österreich durchzuwinken oder mit Polizeigewalt gegen sie vorzugehen. Er drängt Kurz und den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass deren Regierungschefs mit Ungarns Premier Viktor Orbán Kontakt aufnehmen sollen. Werner Faymann will aber nicht mit Orbán reden, bevor er sich nicht mit Angela Merkel bezüglich der Aufnahme der Flüchtlinge beraten hat. Dieses Telefonat findet aber erst kurz nach 20 Uhr statt. Orbáns versuche, mit Faymann zu sprechen, schlagen fehl, er macht sich Richtung Stadion auf, um das Fußball-Europameisterschafts-Qualifikationsspiel zwischen Ungarn und Rumänien zu besuchen. Um 20.45 Uhr informiert der ungarische Botschafter in Berlin das dortige Kanzleramt, dass 100 Busse mit 4000 bis 6000 Flüchtlingen Richtung österreichischer Grenze gebracht werden. In Österreich weiß man davon zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Landespolizeikommandant Hans Peter Doskozil wird von einem Freund privat informiert, der entsprechende Live-Berichte im ungarischen Fernsehen gesehen hat. Christian Kern, zu dieser Zeit ÖBB-Generaldirektor, wird ebenfalls intern über die Vorgänge in Ungarn informiert. Um wegen Flüchtlingen, die Bahngleise entlangmarschieren, den Zugverkehr nicht einstellen zu müssen, beschließt er, bei Bedarf Sonderzüge einzusetzen.
Faymann erreicht Orbán erst nach dem Match telefonisch. Eine Stunde lässt er eine im Lichte der Ereignisse etwas großspurig klingende Presseaussendung verschicken: „Bundeskanzler Werner Faymann erklärte heute nach einem Gespräch mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán und in Abstimmung mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze Österreich und Deutschland der Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zustimmen werden.“ Die Meldung verbreitet sich auch auf Ungarisch und über arabische Social-Media-Netze. Die ersten Busse verlassen daraufhin voll besetzt den Budapester Bahnhof.
Nickelsdorf, 5. September 2015.
Kurz vor drei Uhr in der Früh erreichen die ersten Flüchtlinge zu Fuß die österreichische Grenze. Im Laufe der Nacht werden viele mit Bussen weiter zum Wiener Westbahnhof gebracht. Die Polizei versucht eine händische Zählung, registriert wird niemand.
„Balken auf für die Menschlichkeit“, untermalt Werner Faymann bei einer Rede im Wiener Museumsquartier die nächtliche Entscheidung. „Es ist ein Zeichen aus Österreich, das um die Welt geht“, freut sich Christian Kern am Vormittag am Westbahnhof angesichts der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung.
Schätzungen zufolge kommen bis zum Abend 8000 Flüchtlinge über den Grenzübergang Nickelsdorf. Am gesamten Wochenende zählt das Innenministerium rund 15.000 über Ungarn eingereiste Flüchtlinge. Die meisten machen sich sofort weiter auf den Weg nach Deutschland. Der Zustrom wird in den nächsten Tagen nicht abreißen.
Wien, 6. September 2015.
Werner Faymann versucht am Vormittag, Viktor Orbán zu erreichen. Erfolglos. Der sitzt in der Kirche. Später, nach Gesprächen mit Angela Merkel und den Spitzen der EU, verkündet Faymann, „wieder weg von den Notmaßnahmen hin zu einer rechtskonformen und menschenwürdigen Normalität“ kommen zu wollen. Auch Merkel sagt, dass es keine länger anhaltende Öffnung der Grenze“ geben wird. Tatsächlich startet Österreich ab 16. September wieder mit Grenzkontrollen. Der Zustrom bleibt ungebrochen, bis an der kroatisch-ungarischen Grenze Grenzzäune errichtet werden.
Ab da verlagert sich der Flüchtlingszug in die Steiermark.
Langegg, 19. September 2015.
An dem kleinen Kontrollposten in der Südsteiermark kommen erstmals Flüchtlinge über die slowenisch-steirische Grenze nach Österreich. Indes hindert im slowenischen Gornja Radgona (Oberradkersburg) die Polizei rund 350 Menschen an der Einreise nach Österreich. Die Menschen in der zur Sammelstelle umfunktionierten Messehalle fordern immer wieder lautstark eine Ausreise Richtung Westen. „Go west, go west“, skandierten sie.
Innenministerin Johanna Mikl-Leitner äußert Unverständnis, dass nun auch über Kroatien und Slowenien Flüchtlinge nach Österreich kommen würden. Sie macht klar, dass bei jedem einzelnen in Österreich eingereichten Asylantrag ein „Dublin-Verfahren“ zur Rückstellung nach Kroatien oder Slowenien eingeleitet werde. Ein hehres Ziel – an das sich die Wirklichkeit aber nicht hält. Gegen 13.30 Uhr machen sich 387 Flüchtlinge aus ihren improvisierten Unterkünften in Gornja Radgona zu Fuß Richtung Österreich auf; andere nehmen Züge oder Busse.
Brüssel, 21. Oktober 2015.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lädt zu einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingskrise auf der Balkanroute. „Es gibt Bedarf nach viel mehr Zusammenarbeit und unverzüglichem operativen Handeln“, heißt es. An dem Treffen nehmen die Regierungschefs von Österreich, Deutschland, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Griechenland, Ungarn, Rumänien, Serbien und Slowenien teil.
Spielfeld, 28. Oktober 2015.
Der südsteirische Grenzübergang Spielfeld wird immer mehr zum „Hotspot“ der Migrationsbewegungen und zu einem innenpolitischen Brennpunkt. Im Zentrum: ein geplanter Zaun entlang der Grenze. Beim Namen nennen die Politiker das Projekt nach Widerstand in der lokalen Bevölkerung aus Imagegründen allerdings nicht. Ein verbaler Eiertanz ist die Folge. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner kündigt nach einem Lokalaugenschein stattdessen eine „technische Sperre“ an. Bundeskanzler Werner Faymann wird noch deutlicher, indem er betont, „dass Zäune keinen Platz in Europa haben“ – er spricht von einer „technischen Sicherheitsmaßnahme, die Österreich nicht einkastelt“. Und später von einem „Türl mit Seitenteilen“.
Realisiert wird das 168.000 Euro teure Projekt dennoch. Konkret ein insgesamt rund 3,7 Kilometer langer, zweieinhalb Meter hoher Maschendrahtzaun an beiden Seiten des Grenzübergangs. Lücke inklusive. Denn der (mittlerweile verstorbene) ehemalige Grazer Kulturstadtrat Helmut Strobl, der direkt an der Grenze ein Grundstück besitzt, wehrt sich, den Zaun über seinen Boden laufen zu lassen.
Spielfeld, 6. Dezember 2016.
Helmut Strobl weiht in besagter Lücke eine Installation des Kärntner Künstlers Erwin Posarnig ein, das die beiden als ein „Denkmal gegen Ab- und Ausgrenzung“ verstanden wissen wollen.
Der Zaun selbst? „Der Zaun ist in der bestehenden Form funktionsfähig“, heißt es heute bei der Grenzpolizei. Man bereite sich auf „verschiedene Eventualitäten vor“. Die Planungen der Exekutive beträfen zwar in erster Linie mögliche neue Migrationsbewegungen, es seien aber auch andere Szenarien denkbar, wie etwa eine mögliche Totalsperre von kleineren Grenzübergängen, wenn sich die Corona-Situation derart verschlechtere.
Straß, 28. Februar 2016.
Die Exekutive bleibt im Dauereinsatz. 18,6 Meter misst die Papierrolle mit dem Dienstplan der Polizeiinspektion Straß für diesen Monat. 411 Beamte aus verschiedenen Bundesländern sind dem kleinen südsteirischen Grenzposten zugeteilt. „Wir sind die größte Dienststelle Österreichs“, sagt Kommandant Alfred Lampel.
Szeged, 20. Juni 2019.
In der Berufungsverhandlung vor dem Gericht im südungarischen Szeged werden die vier hauptangeklagten Schlepper, die für die Tragödie von Parndorf verantwortlich gemacht werden, zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. In Wien regiert Interimskanzlerin Brigitte Bierlein. In Graz sorgen Brandanschläge eines Asylwerbers für Aufregung.