Jeder zweite Österreicher leidet oder hat bereits an einer psychischen Erkrankung gelitten. Die Versorgungssituation wird nur von zehn Prozent der Menschen als ausreichend empfunden, ergab eine Umfrage des Berufsverbandes Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP). Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) kündigte am Mittwoch eine breite Diskussion für Verbesserungen an.
Karmasin Research hat im Auftrag des Verbandes der Psychologinnen und Psychologen zwischen 2. und 17. März eine repräsentative Umfrage bei 1.000 Personen zwischen 16 und 69 Jahren durchgeführt. Sophie Karmasin erläuterte: "Wir gehen davon aus, dass sich alle Themen rund um psychische Erkrankungen rund um Corona noch verstärkt haben."
Desaströs ist der Eindruck der Menschen von der Versorgungssituation
Im Endeffekt legte die Umfrage erneut offen, was viele Experten und Betroffene in Österreich seit Jahren betont haben. Die Meinungsforscherin betonte: "Es ist jeder zweite, der bereits an einer psychischen Erkrankung gelitten hat." Im Detail: 52 Prozent der Österreicher verneinten die Frage einer Betroffenheit. 39 Prozent erklärten, aktuell oder in der Vergangenheit psychisch krank gewesen zu sein. Neun Prozent waren sich unsicher.
Desaströs ist der Eindruck der Menschen von der Versorgungssituation der Erkrankten. Nur zehn Prozent der Befragten waren der Meinung, dass in Österreich Menschen mit psychischen Erkrankungen ausreichend geholfen wird. Zwar würden im Fall des Falles 89 Prozent professionelle Hilfe suchen, doch für 65 Prozent ist eine selbst finanzierte Behandlung nicht leistbar. 25 Prozent stimmten sehr der Aussage zu, dass es für Betroffene schwierig ist, die richtige Behandlungsform zu finden. 21 Prozent bekräftigten "sehr" die Feststellung, dass Behandlungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen "kaum leistbar" seien. 18 Prozent stimmten stark der Aussage zu, dass Betroffene vom österreichischen Gesundheitswesen schlicht und einfach "vernachlässigt" würden.
Die Umfrage liefert auch deutliche Hinweise auf Scham und Stigmatisierung der Betroffenen. Sophie Karmasin berichtete: "Nur 63 Prozent würden der Familie oder Freunden von einer psychischen Erkrankung erzählen, nur 21 Prozent Arbeitskollegen. Nur 13 Prozent der Menschen bis zu 19 Jahren würden über eine (eigene; Anm.) psychische Erkrankung im Berufsalltag sprechen. Das ist schon dramatisch."
BÖP-Präsidiumsmitglied Beate Wimmer-Puchinger forderte: "Es braucht ein Gesamtkonzept. Wir wollen mitkämpfen und die Versorgung neu andenken. Psychische Erkrankungen dürfen nicht zu einer Armutsfalle werden." Rund um Covid-19 sei eine Verschärfung der Situation zu registrieren. Man dürfe mit Hinblick auf die Zeitgeschichte nicht vergessen: "Wie man mit psychischen Erkrankungen umgeht, ist ein guter Gradmesser für die Demokratisierung der Gesellschaft." Man brauche da nur an das NS-Regime denken.
Gesundheitsminister Anschober kündigte für den Herbst eine breite Diskussion für Verbesserungen an: "Die Coronakrise hat in vielen Bereichen der Gesellschaft gezeigt, wo wir Stärken und wo wir Aufholbedarf haben. (...) Es wurde sichtbar, dass wir ein sehr starkes Gesundheitswesen haben. Es gibt aber in jedem Gesundheitssystem, so wie in jedem anderen System auch, Lücken. (...) Wir haben nach wie vor Lücken in der Behandlung, vor allem, was den Zugang und die Finanzierung betrifft. Wir werden Ernst damit machen, diese Lücken zu schließen." Es müsse zu einem gleichen Versorgungslevel bei psychischen wie bei physischen Erkrankungen kommen.
Beate Wimmer-Puchinger formulierte drei Prioritäten: breite Thematisierung von psychischen Erkrankungen in der Öffentlichkeit, um die Stigmatisierung der Betroffenen zu verringern, Bündelung aller Ressourcen im Bereich der Psychiatrie, der Psychologen und der Psychotherapie sowie "leistbare" Hilfen für die Patienten. Hier geht es vor allem um die breite Finanzierung von Psychotherapie etc. durch die Krankenkassen.