Ausgangsbeschränkungen und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise haben auch in Österreich das Problem der häuslichen Gewalt verschärft. "Wir haben derzeit 43 Prozent Anrufe mehr", sagte Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin des Vereins der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser.
Noch dürften viele Betroffene aber aus mehreren Gründen mit konkreten Schritten abwarten und sich erst einmal über ihre Möglichkeiten informieren. Im April verzeichnete das Innenministerium unterdessen einen leichten Anstieg der 14-tägigen Betretungs- und Annäherungsverbote. Ein Vergleich der Zahlen von 2020 mit jenen vergangener Jahre ist allerdings nicht möglich, da mit dem Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes 2019 mit 1. Jänner 2020 eine andere Zählweise angewandt wird, erläuterte Ressortsprecher Christoph Pölzl.
Vorläufige Zahlen
"Bisher wurden die Fallzahlen (die Gefährder, Anm.) gezählt, ab Jänner 2020 werden die gefährdeten Personen gezählt", so Pölzl. Das bedeutet: "Wenn ein Gefährder seine Partnerin und ein im Haushalt lebendes Kind gefährdet, ergab dies 2019 einen Fall, 2020 allerdings zwei." Die aktuell vorliegenden Zahlen gelten als vorläufig. "Sie können sich durch ein noch zu erfolgendes Datenclearing noch ändern", so Pölzl weiter. Demzufolge kam es im März zur Aussprache von 965 Betretungs- und Annäherungsverboten, im Februar waren es 879, im Jänner 937.
Im Februar wurden somit rund 30 Betretungsverbote pro Tag registriert. "Somit ist von Februar auf März nicht wirklich ein Anstieg zu verzeichnen", sagte der Sprecher. Im April kam es aus heutiger Sicht mit im Schnitt rund 34 Betretungsverboten pro Tag zu einem leichten Anstieg.
Während in vielen Fällen auch aktuell noch die Schule als Korrektiv wegfällt, scheinen sich aufmerksame Nachbarn und besorgte Angehörige derzeit vermehrt über Möglichkeiten zu informieren, Betroffenen zu helfen. "Derzeit haben wir so gut wie jeden Tag derartige Anfragen", sagte Rösshlumer.
Viele Opfer überlegen gerade jetzt den Zeitpunkt sehr genau, wann sie endgültig gehen. Ein wichtiger Zufluchtsort fällt für viele weg: Erst einmal bei den Eltern bzw. Großeltern einzuziehen, bleibt wegen Covid-19 wenig ratsam. So manche betroffene Frau mit Migrationsintergrund hätte im Ausland ein Netzwerk, kommt aber nicht oder nur mit großen bürokratischen Hürden über die Grenze. Zur Zeit der Ausgangsbeschränkungen war nicht selten selbst der Transport zum Frauenhaus eine logistische Herausforderung.
Ausweichquartiere gibt und gab es immer, auch wenn die Frauenhäuser voll belegt sind, versicherte die Expertin. 26 heimische Frauenhäuser haben im Vorjahr 3.310 Personen betreut.
Für jene, die sich zum Gehen entscheiden, werden Plätze gefunden, betonte Rösslhumer. Spontan geschieht dies eher selten, meist informieren sich Betroffene und Umfeld im Vorfeld umfassend. Sie appellierte an die Zivilcourage. "Wer etwas mitbekommt, soll sich bei uns melden!" Auch anonyme, wenig konkrete Anzeigen könnten eine große Wirkung haben. "Wenn man zum Beispiel die konkrete Adresse nicht weiß, aber etwas hört, sollte man dies trotzdem melden. Auch in solchen Fällen gibt es Möglichkeiten."
Noch sind zu wenig Opfer über ihre Alternativen informiert. Das liegt einerseits daran, dass es schwierig sein kann, mit Hotlines zu telefonieren, wenn der Täter viel zu Hause ist, andererseits scheitert es oft an der Sprachbarriere. Auf www.haltdergewalt.at gibt es Unterstützung auch auf Türkisch, Rumänisch und Englisch. Mehr Fremdsprachen wären aber wünschenswert, so die Expertin.
"Viele Auswirkungen des Lockdowns treten jetzt erst langsam zutage. Vor allem auch im ländlichen Raum oder Probleme in internationale Beziehungen." So melden sich derzeit etwa vermehrt Angehörige aus dem Ausland, die sich Sorgen um Freunde und Familie machen. Sowohl bei Tätern als auch Opfern treten aktuell verstärkt Existenz- und Zukunftsängste auf, die Ausstiegsszenarien erschweren bzw. konkrete Planungen verzögern.
Ausstiegsszenarien dürften derzeit vermehrt angedacht und geplant werden, aber eventuell erst in einigen Wochen umgesetzt. Laut EU-Statistik ist jede fünfte Frau ab dem 15. Lebensjahr Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt. Viel Redebedarf besteht in der Nacht. Ein wichtiger Aspekt für Opfer und Umfeld: "Der gefährlichste Moment ist der, in dem das Opfer den Täter verlässt", so Rösslhumer, die auf die jüngsten Mordfälle an Frauen verweist. 2019 wurden in der Kriminalitätsstatistik 39 Frauenmorde verzeichnet, im Jahr davor 41.