"Seit Tagen bearbeite ich meinen Vater als Risikogruppe, nicht mehr außer Haus zu gehen", ärgerte sich Christoph Wiederkehr, Chef der Wiener Neos, gestern auf Twitter: "Heute kündigt Bürgermeister Ludwig an, allen über 65 einen 50 Euro Taxigutschein zu schenken. Was soll das?"
Die Taxigutscheine, die 300.000 Wiener*innen über 65 in den nächsten Tagen mit der Post geschickt bekommen, sind eine der Maßnahmen, die beim gestrigen Sozialpartnergipfel im Rathaus beschlossen wurden. Die meisten von ihnen haben einen doppelten Nutzen: Sicherheit erhöhen, und den geplagten Wiener Unternehmen unter die Arme zu greifen. So sollen etwa Wiener Schneider*innen in Zusammenarbeit mit dem Krankenanstaltenverbund Schutzmasken für Spitäler nähen, um Engpässe durch verzögerte Lieferungen aus dem Ausland zu vermeiden.
In den leer stehenden Wiener Hotels sollen 24-Stunden-Pfleger*innen untergebracht werden, die derzeit nicht zwischen ihrem Heimatland und Österreich pendeln können. Und im Ronacher sollen schon bald Künstler*innen auftreten, die durch Veranstaltungsabsagen derzeit keine Verdienstmöglichkeit haben. Ohne Publikum, dafür mit Livestream und Gage von der Stadt.
Auch die Wiener Taxibranche soll von den Gutscheinen profitieren. Und die älteren Menschen, die, wie Christoph Wiederkehrs Vater, zur Risikogruppe gehören, sollen vor Ansteckung geschützt werden, weil sie nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen müssen. Aber sollen sie überhaupt das Haus verlassen? Ist es nicht leichtsinnig, auf Lepschi zu gehen, auch wenn's mit dem Taxi passiert?
Womöglich sind die Taxigutscheine auch eine Reaktion auf die Diskussion, die zuletzt geführt wurde, ob es denn zulässig sei, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, um am Stadtrand spazieren zu gehen. Der Bürgermeister meinte: Ja. Die Verordnung von Gesundheitsminister Anschober sieht allerdings nur vier Fälle vor, in denen man „Massenbeförderungsmittel“ betreten darf: Für den Weg zur Arbeit; die Abwendung unmittelbarer Gefahren; um Menschen zu helfen, die Unterstützung brauchen; und um Einkäufe zu erledigen.
Ob mit Taxi oder ohne: Michael Ludwig sprach sich am Mittwoch im Hinblick auf Mobilität jedenfalls für einen "realistischen und pragmatischen Weg" aus: "Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Situation nicht in wenigen Tagen vorbei ist", sagte er am Rande des Sozialpartnergipfels, "Mir ist wichtig, dass wir alle Maßnahmen strikt einhalten. Aber auch darüber nachdenken, wie wir verhindern, dass Aggression und Depression nicht Oberhand gewinnen."
Obwohl die Maßnahmen erst wenige Tage Gültigkeit haben, habe man schon aus mehreren Bundesländern Signale erhalten, dass häusliche Gewalt zunehme. Über einen langen Zeitraum in kleinen Wohnungen zusammen zu leben, bedeute großen Stress: "Gerade weil uns dieser Zustand noch länger erhalten bleibt, bin ich dafür, dass wir von Anfang an deutlich machen, welche Schutzmaßnahmen wichtig sind, und wie man sich zu verhalten hat, um sich und andere zu schützen. Aber wir müssen auch überlegen, wie man das Miteinander in der Stadt gestalten kann."
Die Wiener Polizei hat die Bevölkerung gestern Abend erneut dazu aufgerufen, das Frühlingswetter nicht "für ausgedehnte Freizeitaktivitäten im Freien" zu nutzen. Die Ausnahmeregelungen der Verordnung zur Eindämmung der Infektionskrankheit "gestatten Wege an der frischen Luft, bevor Ihnen zuhause die Decke auf den Kopf fällt", schrieb sie auf Facebook: "Sie sind jedoch nicht für ausgedehnte Freizeitaktivitäten im Freien gedacht, wo Sie potenziell mit unzähligen Menschen in Kontakt kommen."
Veronika Dolna