In Österreich wurden 2018 laut Kriminalstatistik 839 Kinder unter fünf Jahren Opfer von Gewalt. Die Zahl junger Gewaltopfer ist in den vergangenen Jahren fast jedes Jahr kontinuierlich gestiegen. Die größte Gefahr für den Nachwuchs bis zu drei Jahren lauert dabei innerhalb der Familie, wie der traurige Fall eines dreieinhalb Monate alten Buben, der Anfang Dezember in Wien mutmaßlich von seinem eigenen Vater krankenhausreif geschüttelt wurde, zeigt.
„Familie ist leider für Kinder der unsicherste Ort“, erklärt Hedwig Wölfl von der Wiener Kinderschutzeinrichtung „die möwe“. „Heutzutage findet solch gewalttätiges Verhalten eher aus Überforderung, denn aus Überzeugung statt“. In Stresssituationen, wenn beispielsweise ein Baby nicht zu weinen aufhört, würden Eltern teils „keine adäquaten, gewaltfreien Verhaltensweisen parat haben“. Immer mehr frisch gebackene Mütter und Väter wüssten nicht mehr, wie man sich verhält, weil sie es nicht mehr durch Erfahrung gelernt hätten.
Seit Ende der 1980er Jahre liegt die Geburtenrate in Österreich unter 1,5, was bedeutet, dass es mehr Familien mit Einzelkindern als Mehrkindfamilien gibt. „Unsere Gesellschaft verliert immer mehr Erfahrungswissen“, bringt es Wölfl auf den Punkt. „Wir lernen zu 80 Prozent aus Nachahmung, und das fehlt, wenn man als Einzelkind aufwächst.“ In Großfamilien sei das früher anders gewesen. In ihrer Arbeit begegne die Expertin immer öfter Frauen, die mit 35 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben ein Baby in der Hand hielten.
Forderung nach Elternschule
Die Kinderschutzexpertin plädiert deshalb für Elterninformationsangebote, etwa eine zweistündige Elternschule vor und nach der Geburt, in denen die Bedürfnisse von Babys erklärt werden und gezeigt wird, wie man sie richtig hält, füttert, beruhigt, etc. Die Kurse sollten in den Mutter-Kind-Pass NEU integriert und an den Bezug des Kinderbetreuungsgeldes gekoppelt werden, so der Vorstoß. „Wir brauchen aus demografischen Gründen dringend ein Umdenken“, erklärt Wölfl. Erziehung sei zwar nach wie vor eine innerfamiliäre und private Angelegenheit, was jedoch nicht bedeute, dass „man dafür nichts können müsse“.
Zusätzlich plädiert die Kinderschutzexpertin dafür, die „Frühen Hilfen“ – Netzwerke für Unterstützungsmaßnahmen ab der Schwangerschaft bis zum dritten Lebensjahr – auszubauen. Aktuell gibt es österreichweit 26 Frühe Hilfen, die Institutionen wie Schreiambulanzen, aber auch Psychotherapeuten, Eltern-Kind-Zentren, Hebammen uvm. umfassen. Speziell geschulte Familienbegleiterinnen kommen direkt zu den belasteten Eltern nach Hause, helfen vor Ort bzw. empfehlen geeignete Hilfseinrichtungen. „Es geht darum, Eltern bzw. das Kind passgenau dorthin zu vermitteln, wo sie die beste Unterstützung bekommen“, betont Wölfl. Ziel in den Frühen Hilfen sei es dabei immer, den Kindern ein förderliches und sicheres Umfeld für ein gesundes Aufwachsen zu schaffen – freiwillig und kostenfrei für die betroffenen Familien. Die Betreuung sei dabei von Gesellschaftsschicht oder Bildung unabhängig.
Häufig Betreuung nötig
2222 Familien, die mit ihrer Lebenssituation überfordert, mit gesundheitlichen, rechtlichen oder sozialen Belastungen konfrontiert waren, wurden vergangenes Jahr in Österreich betreut. 44 Prozent davon wandten sich selbst an die Frühen Hilfen.
„Besonders oft sind es von Armut betroffene Familien“, so Wölfl. Aber auch solche mit psychischen Erkrankungen oder gesundheitlichen Vorbelastungen, Gewalterfahrung in der Schwangerschaft, postpartalen Depressionen oder schweren Traumata. „Manchmal reichen schon wenige Besuche, manche brauchen auch zwei bis drei Jahre Unterstützung“, so die Expertin.
Rund um die Feiertage zeigen sich bereits bestehende Probleme oft noch stärker. Den betroffenen Familien würde die „große Kluft zwischen ihrer Idealvorstellung mit einer funktionierenden, liebevollen Familie und der Realität, in der sie oft allein gelassen oder einsam sind“, besonders bewusst, so Wölfl. Auch wenn die Annahme von Hilfe manchmal schwierig sei, falscher Stolz sei fehl am Platz. Schließlich gehe es um die Zukunft der Kinder.