Weil er sich den gerichtlichen Feststellungen zufolge seit November 2018 mehrfach an seiner in einem Pflegeheim untergebrachten Stieftochter vergangen hat, ist ein 63-jähriger Mann am Dienstag von einem Wiener Schöffensenat zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Die Betroffene leidet an einer aggressiven Form von multipler Sklerose und kann sich nicht mehr bewegen und nicht kommunizieren.
Hilflos ausgeliefert
Die 47-Jährige war daher dem Angeklagten hilflos ausgeliefert, wie die vorsitzende Richterin Olivia-Nina Frigo in ihrer Urteilsbegründung betonte: "Sie haben sich ein Opfer ausgesucht, das im eigenen Körper gefangen ist." Es handle sich um eine "massiv verwerfliche Tat" und eine "heimtückische Begehungsweise", sodass das Gericht ungeachtet der bisherigen Unbescholtenheit des 63-Jährigen eine Strafe an der Obergrenze des zur Verfügung stehenden Strafrahmens verhängte.
Der Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen Person (Paragraf 205 StGB), für den das Gesetz bis zu zehn Jahre Haft vorsieht, ist nicht rechtskräftig. Der 63-Jährige erbat Bedenkzeit, die Staatsanwältin gab vorerst keine Erklärung ab.
Keine verlässliche Kommunikation möglich
Der Mann - von Beruf Heilmasseur - hatte beim Prozessauftakt Ende Oktober behauptet, er habe mit Zustimmung seiner Stieftochter gehandelt, die mit ihm per Augenzwinkern kommuniziert hätte. Er habe ihr nur Gutes tun wollen: "Mein Ziel war es, ihre Lebensqualität zu verbessern." Diese Verantwortung behielt er bis zum Schluss des Verfahrens bei. Auf Wunsch seiner Verteidigerin wurde am zweiten Verhandlungstag noch der ärztliche Leiter des Heims als Zeuge befragt, in dem die Betroffene seit mehreren Jahren untergebracht ist. "Eine verlässliche Ja-Nein-Kommunikation ist mit ihr nicht möglich", offenbarte dieser dem Senat. Den Krankheitsverlauf bezeichnete er als "schwer, wie man es selten sieht." Die Frau sei in ihrer Wahrnehmung "massiv eingeschränkt". Das Pflegepersonal gehe bei der Betreuung mit ihr "wie mit einem Säugling" um.
Kamera installiert
Der Missbrauch flog auf, weil das Pflegepersonal mit der Zeit einen Verdacht in Richtung sexueller Übergriffe schöpfte. Der Stiefvater besuchte die Frau jeden Freitag, unmittelbar danach wirkte die Betroffene oft außergewöhnlich unruhig. Schließlich wurde im Zimmer der Patientin heimlich eine Kamera installiert. Am 12. Juli 2019 wurde der 63-Jährige bei 40-minütigem Sex mit der Stieftochter gefilmt. Die Heimleitung erstattete nach Ansicht des Materials Anzeige, der Stiefvater wanderte in U-Haft.
Das Video wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Gerichtssaal gezeigt. Wie sich aus der Urteilsbegründung ergab, dürfte daraus sehr deutlich geworden sein, dass die Version des Angeklagten nicht der Wahrheit entsprach. "Auf dem Video ist erkennbar, dass sie das nicht wollte", stellte die Vorsitzende klar. Die Betroffene habe "ein Zitronengesicht gemacht". Dem Stiefvater sei es "rein auf die Befriedigung seiner sexuellen Gelüste angekommen", sagte die Richterin.
Der 63-Jährige hatte behauptet, er habe als ausgebildeter Masseur zunächst beschlossen, in die Behandlung der 47-Jährigen einzugreifen, um ihre Spasmen aufzulösen. Im Lauf der Behandlungen habe sich dann "eine Gefühlsbeziehung aufgebaut". Die Stieftochter habe "Zärtlichkeit, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Liebe" gesucht: "Ich hab' mich verliebt in sie. Das hab' ich echt nicht erwartet."
Schließlich habe er die 47-Jährige gefragt, ob sie mit ihm schlafen wolle, gab der in zweiter Ehe verheiratete mann am ersten Verhandlungstag zu Protokoll. Das habe sie über Augenkontakt bejaht: "Wenn sie Vertrauen hat und wach ist, kann man mit ihr kommunizieren." Hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs sei von ihrer Seite "immer ein Ja gekommen. Wenn sie nicht gewollt hätte, hätte man ihr die Beine brechen müssen".