"Das ist nicht normal. Das ist nicht schönzureden", hat am Donnerstag ein 48-jähriger Mann am Wiener Landesgericht erklärt, wo er sich wegen versuchten Doppelmordes zu verantworten hatte. Er war am 6. Februar 2019 in Wien-Landstraße in Tötungsabsicht mit zwei Küchenmessern auf seine Eltern losgegangen. "Ich habe nie gedacht, dass ich sie töten will", versicherte der Angeklagte.
Am frühen Abend wurde er vom inkriminierten Mordvorwurf freigesprochen. Hinsichtlich des Vaters gingen die Geschworenen von versuchtem Totschlag aus, bezüglich der Mutter wurde eine schwere Körperverletzung angenommen. Bei einem Strafrahmen von fünf bis zehn Jahren verhängte das Schwurgericht (Vorsitz: Thomas Kreuter) sieben Jahre Haft, wobei die bisherige Unbescholtenheit des 48-Jährigen sowie der Umstand, dass die Bluttat in auffallendem Missverhältnis zu seinem bisherigen Lebenswandel stand, mildernd angenommen wurden.
Bluttat "macht ratlos"
"Ich würde fast alles für meine Eltern tun. Das, was da passiert ist, ist ein Wahnsinn. Das bin nicht ich", hatte der Angeklagte in seiner ausführlichen Beschuldigteneinvernahme erklärt. "Er passt überhaupt nicht ins Schema eines Mordangeklagten", meinte seine Verteidigerin Astrid Wagner. Ihr Mandant sei "ein hilfsbereiter, hochanständiger Mensch", der mit seinen Eltern bestens ausgekommen sei und diese monatlich mit 500 Euro unterstützt habe. Die inkriminierte Bluttat "macht ratlos", sagte Wagner. Sie stehe in kausalem Zusammenhang mit unerträglichen Schmerzen im linken Auge, an denen der 48-Jährige seit Jahresbeginn gelitten hätte.
Die plötzlich auftretenden Schmerzen zwangen den bei einem großen Unternehmen als Computersachbearbeiter Beschäftigten erstmalig in seiner Berufslaufbahn zu einem längeren Krankenstand. Er pilgerte von Augenarzt zu Augenarzt, die ihm weder den Schmerz nehmen noch die Ursache seines Leidens nennen konnten. "Es war, wie wenn mit Nadeln auf die Pupillen gestochen wird", schilderte der Angeklagte. Die Ärzte schwadronierten von einem trockenen Auge oder einer Bindehautentzündung und verschrieben ihm wirkungslose Pulver und Tabletten. Selbst in der Notaufnahme eines Spitals fand der Mann keine Hilfe: "Ich konnte nur noch schlafen, wenn ich erschöpft eingenickt bin für ein paar Stunden."
Ein neurologisches Problem?
Am Ende konsultierte der 48-Jährige einen Wahlarzt und erfuhr von diesem, das Auge sei gesund und er habe vermutlich ein neurologisches Problem: "Diese Diagnose war wie ein Schlag ins Gesicht." Er habe "nicht mehr die Kraft gehabt", in eine neurologische Ambulanz zu gehen. In der Nacht sei ihm der Gedanke gekommen, sich das Leben zu nehmen. Er habe es sattgehabt, "wie ein Zombie umherzuwandeln". Seine Eltern habe er in seine Tötungsfantasien miteinbezogen: "Ich war der Meinung, ohne mich geht es nicht. Der Gedanke war, wenn ich mir was antue, dann ihnen auch."
Als er am nächsten Tag die Eltern besuchte, reagierten diese besorgt, nachdem er weiterhin über Schmerzen geklagt hatte. Sie befürchteten, er könne sich etwas antun und wollten ihn laut Anklage daher am Verlassen der Wohnung hindern. Darauf ging der 48-Jährige in die Küche und nahm zwei Messer an sich. "Sie wollten das Beste für mich. Für mich waren sie in dem Moment aber beide eine Bedrohung", berichtete der Angeklagte. Er habe sich gedacht, "sie müssen mir den Weg freigeben. Ich wollte sie verletzen, dass sie den Weg freigeben". Der erweiterte Selbstmord dürfte - der Darstellung des Angeklagten zufolge - zu diesem Zeitpunkt kein Thema mehr gewesen sein.
Dem 73-jährigen Vater fügte der Sohn lebensgefährliche Verletzungen im Brust- und Kopfbereich zu. Ein Stich eröffnete die Lunge, ein weiterer ging durchs Jochbein ins Gehirn. Der Pensionist überlebte nur dank rascher medizinischer Hilfe. Er musste zwei Wochen stationär in einem Krankenhaus behandelt werden. Die 71 Jahre alte Mutter erlitt Stichwunden am Oberarm, an der Wange und an der Lippe und einen Bruch der Augenhöhle. Dennoch gelang es beiden, aus der Wohnung zu flüchten. Am Gang begegneten sie einem Nachbarn, dem die stark Blutenden erklärten, ihr Sohn wäre "durchgedreht". Der Nachbar lief zu einer nahe gelegenen Polizeiinspektion, wo sich drei Beamte auf den Weg zum Tatort machten. Dort ließ sich der 48-Jährige widerstandslos festnehmen.
Schuldfähig
Den einschreitenden Polizisten erklärte der Mann im Zug der Festnahme, er bereue die Tat nicht. "Das einzige, was ich bereue, ist, dass ich es nicht geschafft habe, meine Eltern umzubringen", hielten die Beamten in einem Aktenvermerk fest. Der 48-Jährige habe in diesem Zusammenhang einen "lang aufgestauten Hass" gegen die Eltern erwähnt, bekräftigten die Polizisten als Zeugen ihre Wahrnehmungen. Der Angeklagte hatte dafür keine Erklärung. Er könne sich an seine angeblichen Angaben nicht erinnern.
Laut Gerichtspsychiater Peter Hofmann war der Angeklagte im Tatzeitpunkt zurechnungsfähig und damit auch schuldfähig. Der Sachverständige billigte dem Mann aber zu, aufgrund seiner anhaltenden Schmerzen in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen zu sein. Dass sich die Schmerzen weder beseitigen noch begründen ließen, habe den 48-Jährigen "sehr, sehr hohem Stress" ausgesetzt, sagte Hofmann. Er habe sich aufgrund dessen "in katastrophierende Gedanken" manövriert und sich am Tag der Tat "zweifellos in einer Depression befunden".
Zur Persönlichkeit des Angeklagten führte der Psychiater aus, dieser habe "sehr zurückgezogen, einzelgängerisch" gelebt. Frauen, Sex, Beziehungen hätten ihn nie in seinem Leben interessiert. Der Mann sei beruflich erfolgreich gewesen, nach Feierabend habe er sich damit begnügt, fünf bis sechs Stunden mit Videospielen zu verbringen.
Der 48-Jährige selbst hatte sich zuvor wie folgt charakterisiert: "Ich bin das, was die Gesellschaft einen Einzelgänger nennt. Ich lebe alleine. Ich habe mir das ausgesucht." Abgesehen von seinen Eltern und einer Arbeitskollegin, mit der er seit 25 Jahren befreundet ist, dürfte der Mann privat kaum Kontakte gehabt haben.