Es gibt Zeitregime. Da gibt es erstens die Wochenarbeitszeit, Urlaubsansprüche, Winter- und Sommerzeit, autofreie Tage, Zeitflexibilisierung – all das ist Gegenstand konkreter, pragmatischer Zeitpolitik. Zweitens haben wir es mit „politischen“ Feiertagen zu tun – vom Tag der Arbeit bis zu den Nationalfeiertagen. Das sind Inszenierungen von Staat, Geschichte, Kollektiv, politischer Bewegung. Nationalstaaten brauchen ihre Gedenktage: der 14. Juli in Frankreich oder der 4. Juli in den USA. Neue Nationalstaaten feiern sich öfter, so etwa Slowenien an den folgenden gesetzlichen Feiertagen: Tag der Kultur, des Widerstandes, der Arbeit, der Nationsgründung, der Unabhängigkeit.
Solche Feiertage sind zeitliche Markierungen, Besinnungsstunden, die dem Gedenken dienen, den nationalen Erinnerungspflichten; und sie sollen zugleich „Gemeinschaft“, eine Wir-Identität, schaffen oder stärken. Wie glaubwürdig die Storys auch immer sind – ganz ohne Bürgersinn lassen sich wohl nach wie vor keine Staaten aufrechterhalten. Wenn Kulturrevolution angesagt ist, hat man zuweilen mit einer neuen Zeitordnung, einem neuen Kalender, spekuliert. Gängig gewordene Übersensibilität äußert sich darin, dass man in manchen Texten nicht mehr vom Jahr 1000 n. C. liest, sondern vom Jahr 1000 u. Z. (was bedeuten soll: „unserer Zeitrechnung“, solange diese Zeitrechnung noch etwas bedeutet).
Drittens gibt es die religiösen Dimensionen: Feiertage und Jahreslauf – symbolisch-transzendent überhöhte Strukturierungen der Zeit. Es sind die großen Daten: Ostern und Weihnachten; und eine Reihe von kleineren Terminen. Der traditionelle Jahreslauf wird in europäischen Ländern durch den Feiertagskalender der christlichen Kultur geprägt. Doch diese Länder unterliegen dem Prozess der „Entzauberung der Welt“, wie dies Max Weber nannte, also der Säkularisierung. Das ist ein europäisches Spezifikum; vom Schwinden der Religion kann in anderen Weltteilen keine Rede sein, schon gar nicht in der islamischen Welt. Feiertage sollen an religiöse Erzählungen erinnern und der „seelischen Erhebung“ dienen, aber immer mehr Menschen können weder mit der Seele noch mit deren „Erhebung“ etwas anfangen.
Die Entzauberung der religiösen Feiertage schreitet über vier Phasen voran. Erstens: Ausgangspunkt ist die (mit größerer oder geringerer Intensität gelebte) religiöse Komponente dieser Festtage. Peter Sloterdijk hat einmal schnoddrig gemeint: Religionen, das sind Schuldgefühle mit verschiedenen Feiertagen. Im Zuge der Sakralisierung des Individuums (anstelle der Götter) nehmen die Schuldgefühle ab. Das sanfte Hinausgleiten aus der Religiosität setzt eher bei den „Nebenterminen“ an: Weihnachten und Ostern sind länger stabil, aber Mariä Empfängnis versetzt wenige in Andacht oder Verzückung. In einer globalisiert-multikulturellen Welt kollidieren zudem diffundierende Kulturelemente: Um den Platz Anfang November raufen sich beispielsweise Allerheiligen/Allerseelen immer stärker mit Halloween: Todesbesinnung gegen Klamauk.
Zweitens: Die mit dem Religiösen verbundene Folklore trägt eine Zeitlang. Viele Menschen, die sich inhaltlich von religiösen Versionen transzendenter Bedürfnisse verabschiedet haben, stellen einen Weihnachtsbaum auf und gehen zur österlichen Schinkenweihe, alleine schon der Kinder wegen. Die Aura gewisser Festivitäten ist vorhanden, dahinter gibt es einen „stillen Bedeutungsschwund“. Die Heiligen Drei Könige sollen kommen, auch wenn wir wissen, dass es sie nicht gegeben hat; und die Fronleichnamsprozession ist ein Event, den man auch dann nicht missen möchte, wenn man die unmittelbare Wirkung auf die Fruchtbarkeit der Felder nicht unbedingt voraussetzt. Adventzeit heißt immerhin noch Weihnachtsmarkt, zum Trinken, Essen und Kaufen von Kleinigkeiten; Kerzen, Lichter, Weihnachtslieder – Stimmung macht sich breit, auch Nostalgie.
Drittens: Zuerst die Neben-, dann die Hauptfeiertage verlieren schließlich ihren inhaltlichen Sinn, sie sind arbeitsfreie Tage, nicht mehr, und man trifft in klugem Zeitkalkül seine Kurzurlaubs-Arrangements. Das mag der Tourismus. Die Karfreitags-Entscheidung des EU-Gerichtshofs war bereits eine zutiefst säkulare: Es ging überhaupt nicht um die Unterschiedlichkeit religiöser Gefühle, Lehren oder Stimmungen; das einzige Thema ist Ungleichbehandlung. Einer arbeitet, der andere nicht – geht nicht. Religion spielt keine Rolle, sie darf nicht „diskriminieren“.
Aber natürlich wäre der Karfreitag kein Problem, wenn Religion nicht doch eine Rolle spielte. Ein solches Gleichbehandlungspostulat wirft jedoch Fragen über Ansprüche unterschiedlicher Glaubensgruppen in einer religiös vielfältigen Gesellschaft auf. Buddhistische, jüdische und islamische Feiertage haben in Mitteleuropa keine historisch-kulturelle Verankerung, es war nun einmal ein christlich geprägtes Land. Wenn es dies nicht mehr ist (wenn etwa die Muslime irgendwann ein Drittel der Bevölkerung stellen, also keine kleine Minderheit mehr sind), wird die Argumentation für ein christliches „Zeitregime“ im Jahreslauf schwieriger. (Und selbst bei Minderheiten kann man fragen, welche Rücksichten sich aus einem säkular argumentierenden Gleichbehandlungsprinzip ergeben.)
Wenn religiöse Elemente kaum noch eine Rolle spielen oder wenn keine hegemoniale Dominanz mehr gegeben ist, wird irgendwann die Frage auftauchen, ob die religiösen Feiertage nicht allesamt abzuschaffen wären. Nun sind manche religiösen Gebote von praktischer Lebenserfahrung geprägt, aber religiös „verstärkt“ worden. Wenn sie ihre religiöse Motivation verlieren, bleiben die Regeln deshalb doch vernünftig. Man kann Feiertage unter dieser Perspektive sehen. Eine reiche Gesellschaft muss ihre Individuen nicht bis an die je persönliche Belastungsgrenze treiben, wenn es nicht gerade um das Überleben geht. In den westlichen Luxusländern geht es aber vielfach bloß um Accessoires, um Überflüssiges, für das man kein Burnout riskieren und nicht das Letzte an Zeit und Kraft aus den Menschen herausholen muss – deshalb auch der reichliche Urlaub, die gestreckten Wochenenden, die Feiertage, anders als in den USA.
Der Work-Life-Balance-Nutzen von Feiertagen bleibt, auch wenn die religiösen Motive schwinden. Es wird entschleunigt, die destruktiver werdende Beschleunigungsgesellschaft wird eingebremst. Aber welches Zeitregime im postchristlichen Zeitalter gestaltet wird, bleibt offen.
Manfred Prisching