Viele Zeitzeugen gibt es nicht mehr, die jene Schicksalstage vor 80 Jahren in Österreich bewusst miterlebt haben. Einer jener Beobachter ist Kurt Jungwirth, Jahrgang 1929 und damals gerade Schüler in der dritten Klasse Volksschule.
Jungwirth lebte mit seiner Mutter, die sich mit Nähen durchbringen musste, und seinem um neun Jahre älteren Bruder (er sollte später im Krieg fallen) in der Nähe des Sturm-Platzes in Graz. Sein Vater war wenige Monate vor seiner Geburt an Pneumonie verstorben. Sport (Fußball, Leichtathletik) war zwar die Hauptleidenschaft des Achtjährigen, aber im dreistöckigen Zinshaus konnte er auch Gespräche über Politik verfolgen: „Die Parteien in unserem Haus waren sehr gemischt. Jakomini war zwar ein Arbeiterbezirk, aber es gab auch einen Nachbarn, der war eindeutig auf der Hitler-Seite“, erinnert sich Jungwirth.
In der katholischen Privatschule der Schulbrüder in der Hans-Sachs-Gasse, in die er damals ging, bekam er hingegen von der Politik wenig mit; das war dort kein Thema. Allerdings wurde die Schule unmittelbar nach dem „Anschluss“ von den Nazis sofort geschlossen und Jungwirth fand sich plötzlich als Schüler in der Münzgrabenstraße wieder.
Allerdings fielen ihm am Schulweg die „vielen jungen Menschen auf, die keine Arbeit hatten und oft demonstrierten“. Auch im eigenen Wohnhaus wurde in den letzten Tagen Österreichs viel am Gang diskutiert. „Ich war nur Zuhörer, habe aber deutlich gemerkt, dass die Erwachsenen sehr aufgeregt waren.“
Bestimmendes Element jener Zeit waren die Arbeitslosigkeit und Armut. „Ständig kamen Bettler in die Häuser und gingen von Wohnung zu Wohnung. Auch wir hatten Münzen an der Garderobe liegen, die für Bettler reserviert waren.“ Vor Augen hat er heute noch einen Blinden, der ein altes Grammofon mitschleppte, es am Hof aufstellte, und der dann „gehofft hat, dass die Armen dem Armen helfen“.
Die Kriege in China (Japan griff das Festland an) und in Spanien „habe ich eher wie ein Sportmatch erlebt, das war weit weg für uns“. Doch im Februar 1938 wurde klar, dass einschneidende Änderungen bevorstanden. An die Abschiedsrede von Kurt Schuschnigg kann sich Jungwirth noch sehr gut erinnern; er verfolgte sie bei Nachbarn, die ein besseres Radio hatten. „Dieses Ehepaar hat sichtlich aufgeatmet. Jetzt wird es besser, war die Meinung.“ Auch sein Bruder dachte so, und für die Mutter, die ständig um eine winzige Witwenpension kämpfen musste, wurden die Zeiten zunächst auch deutlich besser.
Aber es gab für den Achtjährigen auch verstörende Momente in jenen Tagen. Als nach dem Anschluss große Fackelzüge den Grazer Ring herabmarschierten, war er mit seiner Mutter als Zuseher dabei. Der kleine Kurt verlor die Fassung, als er skandieren hörte: „Wo ist der Kurt? Der Kurt ist furt! Wo gehört er hin? In die Wurschtmaschin!“ – Gemeint war natürlich der Bundeskanzler Kurt Schuschnigg.
Jungwirth weiß noch, dass sich herumsprach, dass der vormalige Landeshauptmann Karl Maria Stepan nun in Dachau im KZ sei. „Aber das war ein politisches Lager, und so etwas kannten wir ja alles schon, das war nichts Neues.“ Was sich in den KZ wirklich abspielte, erfuhr man erst viel später.
Jungwirth bekam mit, dass jener Hausarzt, der oft Hausbesuche gemacht hatte, plötzlich verschwunden war. „Jemand hat dann erwähnt, dass er Jude gewesen war. Aber was mit ihm passiert war, wusste niemand. War er ausgewandert? Oder verhaftet worden?“ Doch all das wurde überlagert von der weitverbreiteten Ansicht: „Das alte System hat abgewirtschaftet, in Deutschland gibt es Arbeit.“
Mehrere Lehren hat Jungwirth aus den Märztagen 1938 für sich gezogen: „Mir hat sich eingeprägt, wie rasch sich die Masse mobilisieren lässt.“ Über Nacht wäre alles mit Hakenkreuz-Fahnen beflaggt gewesen. Die Not, die fehlenden Arbeitsplätze und Perspektiven hätten die Menschen zu den Rattenfängern getrieben. Jungwirth konnte sich später mit der Ansicht Bruno Kreiskys, hohe Schulden seien ihm lieber als hohe Arbeitslosenzahlen, durchaus anfreunden. „Vor dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit wachsen dann auch Sündenbocktheorien und die Angst vor dem Fremden.“
Jungwirth ist fest davon überzeugt, dass man in der Friedensbildung nicht nachlassen dürfe. Internationale Austauschprogramme, die EU als Friedenskonzept und die Entwicklung der Menschenrechte sind für ihn wichtige Meilensteine der letzten Jahrzehnte.
Sein Resümee: „Man sagt zwar, die Geschichte sei die Lehrmeisterin der Völker. Aber das stimmt leider nicht. Die Geschichte beginnt mit jedem Kind neu, dass auf die Welt kommt.“