Im Juli 1938 wurde Graz der Titel „Stadt der Volkserhebung“ verliehen
Im Juli 1938 wurde Graz der Titel „Stadt der Volkserhebung“ verliehen © KK

Der formal mit dem 12. März 1938 vollzogene „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland war kein punktuelles Ereignis. Er muss vielmehr als Prozess verstanden werden, der in den letzten Februar- und ersten Märztagen des Jahres 1938 begann und sich über das Jahr 1938 hinaus ausdehnte. Im Kern ging es darum, all jene, die nicht in das rassistische Weltbild der Nationalsozialisten passten, zu vertreiben oder zu ermorden und die steirische Gesellschaft schrittweise im Sinne der NS-Volksgemeinschaft umzubauen. Ein Vorgang, der mit den Begriffen Verfolgung, Terror, Teilhabe und Verlockung grob umrissen werden kann und sich in einzelnen Ereignissen des Jahres 1938 manifestierte.

Am Beginn stand die sogenannte „Volkserhebung“. Anfang des Jahres 1938 erhöhten in der Steiermark, seit Jahren eine Hochburg des Nationalsozialismus, lokale NS-Gruppierungen sukzessive den öffentlichen Druck und verstärkten ihre propagandistische Agitation auf der Straße. In öffentlichen Kundgebungen ebenso wie durch das Verteilen von Streu- und Flugzetteln demonstrierte man mit immer weniger Zurückhaltung Stärke gegenüber dem austrofaschistischen Staat und der Grazer Bevölkerung. All das kulminierte nach dem Berchtesgadener Abkommen in einer weiteren Verschärfung der Lage.

Hochrangige Nationalsozialisten, darunter auch Hitler selbst, kamen Anfang April nach Graz. Es galt, die Macht mit Versprechungen für eine gute Zukunft zu sichern – und es funktionierte
Hochrangige Nationalsozialisten, darunter auch Hitler selbst, kamen Anfang April nach Graz. Es galt, die Macht mit Versprechungen für eine gute Zukunft zu sichern – und es funktionierte © (c) Rübelt, Lothar / ÖNB-Bildarchi (Rübelt, Lothar)

Ab 19. Februar 1938, als die Ergebnisse von Berchtesgaden bekannt gegeben wurden, begannen in Graz und Leoben nationalsozialistische Massenkundgebungen, denen jene der Vaterländischen Front gegenüberstanden. Dabei wurde am 24. Februar am Grazer Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst und damit in gewisser Hinsicht die NS-Machtübernahme vorweggenommen. Anton Rintelen, ehemaliger christlichsozialer Landeshauptmann der Steiermark und von den Nationalsozialisten im Fall des Gelingens des Juli-Putsches von 1934 als Bundeskanzler vorgesehen, hielt dazu in seinen Erinnerungen fest: „In unbeschreiblicher Begeisterung entbot die unübersehbare Menge dem wehenden Banner den deutschen Gruß.“

Die Propagandamaschine der Nationalsozialisten lief wie geschmiert: Jubel und Begeisterung für Adolf Hitler in Graz
Die Propagandamaschine der Nationalsozialisten lief wie geschmiert: Jubel und Begeisterung für Adolf Hitler in Graz © (c) ullstein bild / Ullstein Bild / (ullstein bild)

Diese nationalsozialistischen Massendemonstrationen mit dem Höhepunkt der Fahnenhissung wurden in den darauffolgenden Monaten propagandistisch verarbeitet zur sogenannten „Volkserhebung“ überhöht. Ein Begriff, der sich in das kulturelle Gedächtnis der Steiermark eingeprägt hat und mangels kritischer Hinterfragung das nationalsozialistische Selbstbild jener Tage bis in die Gegenwart fortleben lässt. Denn mit dem Bild der „Volkserhebung“ wird der gewaltsamen Machtübernahme durch eine Gruppe eine gewisse Legitimität zugeschrieben, wonach sich „das Volk“ zu Recht gegen ein Unrechtsregime erhoben hätte. Seinen Ausdruck findet diese nationalsozialistische Selbstsicht beispielsweise in den 1978 unkommentiert im Historischen Jahrbuch der Stadt Graz veröffentlichten Erinnerungen des nationalsozialistischen Gauhauptmannes und Universitätsprofessors Armin Dadieu. Dadieu, der als Gauwirtschaftsberater in den Raub jüdischen Eigentums ab dem März 1938 eingebunden war, erinnerte sich: „Es war die Zeit, als Schuschnigg vom Obersalzberg zurückkam und wir in der Steiermark eine solche Welle der nationalen Begeisterung entfacht haben, dass wir etwa drei Wochen vor dem wirklichen Anschluss praktisch das Heft in der Hand hatten.“
Aus dem Terror der Nationalsozialisten auf der Straße wird „nationale Begeisterung“, und das Faktum, dass nur wenige Tage später, als am 12. März der „Anschluss“ real vollzogen wurde, sogleich politische Gegner und all jene, die dem rassistischen Welt- und Gesellschaftsbild nicht entsprachen, rücksichtslos verfolgt wurden, verschwindet. Ebenso unerwähnt bleibt, dass sowohl der austrofaschistische Ständestaat bis zuletzt um den Erhalt Österreichs kämpfte und hierbei – viel zu spät – auch Unterstützung durch die seit 1934 illegalen freien Gewerkschaften sowie die verbotenen Arbeiterparteien (Revolutionäre Sozialisten und Kommunisten) erhielt.

Am Abend des 11. März, als erneut im ganzen Land Massenkundgebungen stattfanden, kündigte schließlich Armin Dadieu den bevorstehenden „Anschluss“ an. Häuser wurden mit Hakenkreuzfahnen beflaggt, SA und SS hielten trotz Bundesheerpräsenz Kundgebungen ab, ehe dann in der Nacht auf den 12. März die Nationalsozialisten real die Macht übernahmen. Rechtsanwalt Julius Kaspar wurde Bürgermeister von Graz und Armin Dadieu Landesstatthalter. Nach dem Rücktritt von Landeshauptmann Trummer übernahm der illegale Gauleiter der Steiermark, Sepp Helfrich, sein Amt, das er bis Mai innehaben sollte, ehe dann Sigfried Uiberreither von Adolf Hitler zum Gauleiter der Steiermark ernannt wurde. Noch am 12. März marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein, wobei die ersten deutschen Soldaten in der Steiermark mit dem Flugzeug in Graz-Thalerhof landeten.

Hitler besuchte Anfang April Graz
Hitler besuchte Anfang April Graz © (c) amw / Interfoto / picturedesk.co (amw)

Unmittelbar mit der Machtübernahme setzte auch der Terror ein. Tausende Menschen in der Steiermark wurden, nach vorgefertigten Listen, verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen. Neben Juden, Kommunisten und Sozialisten waren es vor allem die ehemaligen Funktionäre des austrofaschistischen Ständestaates und jene, die für die Niederschlagung des Juli-Putsches 1934 verantwortlich waren, auf die man es in diesen Märztagen abgesehen hatte. Häufig waren persönliche Rachegelüste von Nationalsozialisten Hintergrund für Verhaftungen und nicht selten brutale Misshandlungen, sodass sich der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, Ende März 1938 dazu gezwungen sah, per Schreiben ein geordnetes und einheitliches Vorgehen anzuordnen. Demnach sollte das Gros der Verhafteten vom März bis April wieder entlassen und lediglich führende Vertreter des Ständestaates sollten vor Gericht gestellt oder in das seit 1933 für zunächst politische Gegner errichtete Konzentrationslager Dachau überstellt werden.

Am 2. April 1938 erreichte der erste Prominententransport mit 150 österreichischen Häftlingen Dachau. Darunter drei Personen aus der Steiermark: der ehemalige Sicherheitsdirektor für die Steiermark Oberst Franz Zelburg, der Landesführer der Vaterländischen Front Dr. Alfons Gorbach und der Sozialist Hermann Lackner.

Terror und Verlockung waren zwei Prinzipien nationalsozialistischer Herrschaft, die den Menschen bekannt waren. Schon seit Jahren hatten die Nationalsozialisten durch Terroranschläge die Gesellschaft in Atem gehalten und zugleich in ihrer Propaganda den Menschen in der Steiermark und Österreich für den Fall ihrer Unterstützung ein besseres Leben versprochen.

April 1938: Hitler bei seiner Ansprache in der Maschinenhalle der Weitzer Waggonfabrik
April 1938: Hitler bei seiner Ansprache in der Maschinenhalle der Weitzer Waggonfabrik © (c) Scherl / SZ-Photo / picturedesk. (Scherl)

Es war daher auch nicht verwunderlich, dass dem öffentlichen Terror der ersten Tage, der von einem Sturz der Symbole begleitet war, Wochen des Werbens um die Zustimmung folgten. Denn es war nun an der Zeit, den vielen Ankündigungen rasch Taten folgen zu lassen, wobei es nicht bloß um das Einlösen von utopischen Versprechen ging, sondern vor allem stand das Werben um die Zustimmung der Menschen, die Absicherung der noch durchaus prekären Macht im Vordergrund. Das wirkmächtigste Instrument dabei waren die Versprechungen der NS-„Volksgemeinschaft“. Seit dem Ersten Weltkrieg war die „Volksgemeinschaft“ in Deutschland und Österreich zu einem politisch schlagkräftigen Bild geworden.

Aus dem Erlebnis des Schützengrabens des Ersten Weltkrieges hervorgegangen, wurde die Gemeinschaft gegen die Gesellschaft in Stellung gebracht. In politischen Reden und zahlreichen propagandistischen Publikationen wurden der liberalen, kapitalistischen Gesellschaft, mit ihrem Prinzip von individueller Freiheit und Gleichheit alle krisenhaften Erscheinungen der Moderne untergeschoben: Arbeitslosigkeit, soziale Isolation, Parteienzwist, Aufhebung der traditionellen Geschlechterrollen, Emanzipation, Klassenkampf, allgemein gesellschaftliche Zerrüttung. Für all das seien die Gesellschaft und dahinterstehend das Judentum verantwortlich. Überwunden werden könne all das nur durch die Besinnung auf die Gemeinschaft, wie sie sich im Schützengraben bereits bewährt hatte. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz!“, „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ waren die neuen Schlagwörter der Volksgemeinschaft. Gauleiter Sigfried Uiberreither brachte das Prinzip der „Volksgemeinschaft“ in einer Ansprache vor politischen Leitern Anfang Juli 1938 auf den Punkt: „Mit derselben Energie, mit der wir die Volksgenossen an uns heranziehen und zu einer Einheit verschmelzen werden, werden wir andererseits das Volksfremde so lange abstoßen, bis es einfach nicht mehr da ist.

Für den Volksgenossen, der ehemals politischer Gegner war, wird in diesem Staate in Zukunft immer Arbeit und Brot vorhanden sein, für den Juden dagegen nie.“ „Volksgemeinschaft“ bedeutete, wie in den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 in Gesetzesform gebracht, „rassische Gleichheit“, politische Unterordnung und Gehorsam. Wer sich dem anschloss, sollte belohnt werden. Wer nicht dazugehören konnte oder wollte, musste bedingungslos verfolgt, ausgeschlossen und letztlich ermordet werden. Dementsprechend richteten die Nationalsozialisten in den ersten Monaten ihrer Herrschaft das gesamte Augenmerk auf diese Prinzipien des Ein- und Ausschlusses. Im Vorfeld der „Volksabstimmung“ vom 10. April, von der politische Gegner ebenso wie Jüdinnen und Juden ausgeschlossen waren, wurde eine immense Propagandamaschinerie in Gang gesetzt.

April 1938: Hitler bei seiner Ansprache in der Maschinenhalle der Weitzer Waggonfabrik
April 1938: Hitler bei seiner Ansprache in der Maschinenhalle der Weitzer Waggonfabrik © (c) Rübelt, Lothar / ÖNB-Bildarchi (Rübelt, Lothar)

Medienwirksam nahmen aufgrund der Wirtschaftskrise stillgelegte Industriebetriebe ihre Arbeit wieder auf, besuchten hochrangige Nationalsozialisten – Adolf Hitler kam am 3. April 1938 nach Graz, Hermann Göring war im März in Eisenerz – die Steiermark und versprachen den Menschen eine bessere Zukunft und Arbeit. Die Nationalsozialisten organisierten Hilfslieferungen von Lebensmitteln aus Deutschland und führten öffentliche Ausspeisungen ebenso wie gemeinsame Essen am Grazer Hauptplatz, am sogenannten Eintopfsonntag, durch. Von den Februartagen 1938 an war die Inszenierung des Gemeinschaftserlebnisses zentrales Element nationalsozialistischer Herrschaftsetablierung und -sicherung. Vor allem die Bilder der Feiern zur Verleihung des nationalsozialistischen Ehrentitels „Stadt der Volkserhebung“ an Graz, vom 25. Juli 1938, konnten sich nachhaltig in das Gedächtnis der Stadt Graz und der Steiermark einschreiben.

Es sind jene Bilder der vom Grazer Künstler und Mitglied der Grazer Sezession, Hans Reichenfelser, gemeinsam mit dem Architekten Hans Zisser im Juli perfekt inszenierten Feiern anlässlich der Totengedenkfeier für die steirischen „Blutzeugen der Bewegung“, die beim Putschversuch 1934 ums Leben gekommen sind, die maßgeblich bis in die Gegenwart das Bildgedächtnis des Jahres 1938 in der Steiermark prägen. Bilder von Menschen in Uniform, in Reih und Glied, eingehüllt in ein Meer aus Hakenkreuzfahnen, die die brutale Realität nationalsozialistischer Herrschaft verdecken. Die Verfolgung und Ermordung politischer Opposition und all jener, die nicht Teil der „Volksgemeinschaft“ sein konnten oder wollten, hat hierin keinen Platz. Ebenso wenig zeigen diese Bilder die bereitwillige Beteiligung der Menschen am Nationalsozialismus. Denn NS-„Volksgemeinschaft“ war stets auch das Versprechen auf Konsum („Kraft durch Freude“-Fahrten, Volkswagen und Volksempfänger), dem viele Menschen bereitwillig folgten und die dafür die Verfolgung und Ermordung ebenso wie einen Krieg mit Millionen Toten in Kauf nahmen.