Dass Österreich seine demokratischen Strukturen nach dem Ersten Weltkrieg anderthalb Jahrzehnte bewahren konnte, mag aus heutiger Sicht eine bescheidene Zeitspanne sein. Aber alle Staaten Ost-, Mittel und Südeuropas einschließlich Italien hatten sich, mit Ausnahme der Tschechoslowakei längst schon autoritären oder diktatorischen Staatsformen zugewendet, und selbst Deutschland war auf dem Weg in die Diktatur zeitlich voraus. Aber der Weg war vorgezeichnet, Demokratie war noch kein außer Streit gestelltes gemeinsames Fundament.
Schon 1930 hatten die Heimwehren sich am italienischen Faschismus orientiert und im Korneuburger Eid geschworen: „Wir verwerfen den westlichen demokratischen Pluralismus und den Parteienstaat! ... Wir kämpfen gegen die Zersetzung unseres Volkes durch den marxistischen Klassenkampf und liberal-kapitalistische Wirtschaftsgestaltung.“
Die Angst vor der Sozialdemokratie war groß, denn diese hatte die Wahlen von 1930 gewonnen, über 41 Prozent der Stimmen erzielt und 72 Mandate gewonnen. Der Machterhalt der Christlichsozialen Partei mit ihren 66 Sitzen war auf die Zustimmung von nationalem Wirtschaftsblock und Heimatblock gebaut, ein labiles Konstrukt. Zudem ging der Blick der Regierung nach Italien, wo Mussolinis Politik in Österreich Bewunderer fand und von wo Massen an illegalen Waffentransporten über Österreich nach Ungarn liefen. Im Jänner 1933 deckte die „Arbeiter-Zeitung“ auf, dass 40 Waggons mit 84.000 Gewehren und fast 1000 Maschinengewehren aus Italien in die Waffenfabrik Hirtenberg gebracht worden waren, zum größten Teil für den Weitertransport nach Ungarn, zum Teil waren sie aber auch den Heimwehren zugedacht. Die Waffen waren italienische Kriegsbeute, stammten also eigentlich aus den Beständen der alten Monarchie.
Ab 1932 legten die Nationalsozialisten in Österreich bei Landtagswahlen in einem Ausmaß zu, dass sie bei den nächsten Wahlen zum Nationalrat zu einer ernst zu nehmenden Kraft geworden wären. Die Regierung hätte auf jeden Fall ihre Mehrheit eingebüßt, drei große und unversöhnliche Lager standen sich wechselseitig im Wege. Da kam der Regierung Dollfuß eine Geschäftsordnungspanne des Nationalrats am 4. März 1933 sehr gelegen, um die Abkehr vom Parlamentarismus zu realisieren.
Was war geschehen? Am 4. März 1933 standen im Parlament drei Anträge zum Vorgehen in einem Eisenbahnerstreik auf der Tagesordnung. In der Abstimmung gab es formale Unstimmigkeiten und ganz knappe Resultate, worauf Karl Renner als Erster Präsident des Nationalrats seinen Rücktritt erklärte, um mit seiner Fraktion stimmen zu können. Nun musste der konservative Rudolf Ramek als Zweiter Präsident die Sitzung leiten, aber auch er trat zurück. Wohl im Affekt legte auch der Großdeutsche Sepp Straffner, der Dritte Präsident, seine Funktion nieder, und so konnte die Sitzung nicht ordnungsgemäß geschlossen oder vertagt werden. Sofort sprach die Regierung von einer „Selbstauflösung“ des Parlaments und verhinderte in der Folge konsequent, auch mit Waffengewalt, ein Wiederzusammentreten der Parlamentarier. Dollfuß hatte als Instrument der Erlassung von Gesetzen das „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“ aus dem Jahr 1917 zur Hand, ein Gesetz, das der Regierung erlaubte, ohne parlamentarischen Beschluss rasche Sanierungsmaßnahmen zur Beseitigung von Kriegsfolgen zu setzen. Und im weitesten Sinn waren alle Ereignisse der Zwischenkriegszeit „Kriegsfolgen“.
Als am 15. März 1933 das korrekte Zusammentreten des Parlaments militärisch verhindert wurde und als ein Einspruch beim Verfassungsgerichtshof daran scheiterte, dass die Mitglieder des Obersten Gerichts, die von der Christlichsozialen Partei nominiert worden waren, ihren Rücktritt erklärten und das Gericht somit handlungsunfähig war, war der juristische Staatsstreich vollzogen. Österreich hatte aufgehört, eine Demokratie zu sein. Der Bundespräsident, Wilhelm Miklas, blieb untätig und ignorierte auch eine Petition, die von über einer Million Österreicherinnen und Österreichern unterschrieben worden war.
Im Mai 1933 wurde die Vaterländische Front gegründet, die sich als Sammelbecken aller vaterländisch und christlich denkenden Österreicher verstand. Die NSDAP und die Kommunistische Partei wurden verboten, der Republikanische Schutzbund wurde aufgelöst. Viele junge Linke wandten sich enttäuscht von der zögerlichen Sozialdemokratie ab und gingen zur KPÖ, die in der Illegalität mehr Mitglieder hatte als zu allen legalen Zeiten. Einige Arbeiter begannen aber auch, mit den Nazis zu sympathisieren, da deren Aktionismus und Hitlers Arbeitsbeschaffungspolitik in Deutschland attraktiv zu sein schien.
Am 21. Jänner 1934 wurde der Verkauf der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“ verboten und die Waffensuchen in den Häusern und Treffpunkten des nunmehr illegalen Republikanischen Schutzbundes gingen weiter. Die Passivität der sozialdemokratischen Parteiführung, die Zurückhaltung Otto Bauers und seines Umfeldes irritierten viele Linke. Die Sozialdemokratie hatte ihre Eckpunkte aber festgeschrieben – einen Kampf gäbe es bei drei Szenarien: dem Verbot der Partei, der Auflösung der freien Gewerkschaften oder der Zerschlagung der Stadtregierung des „Roten Wien“. Das schienen vielen viel zu späte Haltesignale gegen das antidemokratische Vorgehen zu sein.
Als am 12. Februar 1934 die Exekutive in der Parteizentrale der oberösterreichischen Sozialdemokratie, dem „Hotel Schiff“ in der Linzer Landstraße, nach Waffen des Schutzbundes suchen wollte, kam es zur Gegenwehr. Richard Bernaschek, eine durchaus schillernde politische Figur, damals Parteisekretär in Oberösterreich, gab das Signal zum Widerstand, obwohl die Wiener Parteiführung zu beschwichtigen versuchte.
Der ungeplante und nicht wirklich organisierte Widerstand in Linz griff rasch auf andere Städte und Industrieorte über. Steyr, St. Pölten, Weiz, Graz, Kapfenberg, Bruck, Ebensee und Wörgl, vor allem aber Teile von Wien wurden für einige Tage Schauplätze heftiger Kämpfe. Aber weite Teile Österreichs blieben ruhig. In Vorarlberg und in Kärnten distanzierten sich die sozialdemokratischen Führungen rasch vom Aufstand. Und selbst in großen Teilen Wiens ging das Leben ganz unbehindert weiter.
Die Kämpfe wurden teilweise erbittert geführt. Von der Wiener Hohen Warte aus beschoss man mit Kanonen den Karl-Marx-Hof, und auch andere Gemeindebauten des Roten Wien waren hart umkämpft. In Graz-Eggenberg und in Bruck floss Blut in großen Mengen, und nach einigen Tagen der Auseinandersetzung gab es über 300 Tote. Die Zahl der Verwundeten betrug ein Vielfaches. Die sozialdemokratische Parteiführung war in die Tschechoslowakei geflüchtet und bereitete von dort aus die illegale Arbeit der „Revolutionären Sozialisten“ vor.
Nach der Niederschlagung der Aufstände ging die Regierung mit aller Härte gegen jene Personen vor, die sie als Rädelsführer betrachtete. In Wien wurde Karl Münichreiter schwer verletzt zum Galgen geführt, in Graz wurde am 17. Februar der Schutzbündler Josef Stanek hingerichtet. Die Regierung verlängerte schließlich den Ausnahmezustand, bis man Koloman Wallisch, immerhin Parteisekretär und Abgeordneter zum Nationalrat, gefangen nehmen und hinrichten konnte.
Die Februarkämpfe hinterließen tiefe Wunden in der österreichischen Bevölkerung, die zum Teil bis heute nicht wirklich verheilt sind. Selbst in meiner Familie galt das Foto, das Koloman Wallisch vor seiner Hinrichtung zeigt, gleichsam als Ikone. Es stand viele Jahreauf meinem Schreibtisch, und die österreichische Geschichtswissenschaft arbeitet sich bis heute an der Einordnung dieser Ereignisse durchaus noch immer kontroversiell ab. International aber wurde der Februar 1934 zum Symbol. Er gilt als das erste Wehren gegen die faschistischen Tendenzen in Europa und als Zeichen, dass eine nicht gespaltene Arbeiterbewegung bereit war, gegen den Faschismus aufzustehen. Im Spanischen Bürgerkrieg nannte sich eine internationale Brigade „12. Februar“, und Anna Seghers setzte Koloman Wallisch ein eindrückliches literarisches Denkmal.
Die Regierung verbot die Sozialdemokratie, die freien Gewerkschaften und alle Nebenorganisationen der Bewegung, sogar den Arbeiter-Samariterbund. Sie verhaftete den sozialdemokratischen Bürgermeister von Wien, Karl Seitz, und übernahm auch die Verwaltung der Stadt, besetzte sie mit ihren Parteigängern. In Wöllersdorf bei Wiener Neustadt hatte sie schon 1933 ein Anhaltelager errichtet, in dem sie nun die Geschlagenen einsitzen ließ. Und wie zum Hohn war es gerade der 1. Mai, der Tag der Arbeit, den die Sozialdemokratie als ihren Festtag etabliert hatte, an dem Dollfuß die Maiverfassung verkündete, die dem autoritären Ständestaat seine Struktur geben sollte. Man hatte sich des alten politischen Gegners entledigt und konnte die Reste der Revolution von 1918/19 beseitigen, unter der wohlwollenden internationalen Deckung durch die italienischen Faschisten.
Aber da gab es noch den zweiten Kontrahenten, die Nationalsozialisten. Man hatte die nationalsozialistische Bewegung 1933 verboten, aber nun erhielt sie großen Zulauf, durchaus auch von enttäuschten Sozialdemokraten, vor allem aber auch von Menschen, die an der Politik Adolf Hitlers Gefallen fanden und vor allem dessen Arbeitsbeschaffungsprogramme bewunderten. Und Hitlers Antisemitismus war den Österreichern ja nicht fremd, hatte er doch gerade hier seine Wurzeln. Überwiegend junge Menschen begrüßten den Aktionismus der illegalen Nazis. Bei uns stopften sie etwa in den Auspuff des Autos, das der Pfarrer fuhr, Hakenkreuze aus Papier, die dann beim Wegfahren durch die Luft wirbelten. Sie schoren Hakenkreuze in Schafe und entzündeten in den Bergen große Feuer in Hakenkreuzform. Aber es gab durchaus auch härtere und blutige Aktionen. Die Auseinandersetzung mit der Regierung begann zu eskalieren.
Wer in die Putschvorbereitungen der Nazis involviert war und wie groß die Vernetzung nach Deutschland war, ist umstritten. Sicher ist, dass die Rivalität zwischen der SA und der SS die Planungen behinderte. Vorbereitungen gab es vor allem in der Steiermark, war doch Anton Rintelen als neuer Regierungschef vorgesehen. Jedenfalls drangen am 25. Juli 1934 154 als Soldaten des Bundesheeres und als Polizisten verkleidete SS-Männer in das Bundeskanzleramt ein. Putschisten besetzten auch den Rundfunksender RAVAG. Im Zuge der Besetzung des Bundeskanzleramtes wurde Engelbert Dollfuß schwer verwundet und verstarb in den Amtsräumen.
In Kärnten, der Steiermark und in Teilen Oberösterreichs erhoben sich die Nationalsozialisten und lieferten den Regierungstruppen heftige Kämpfe. Es gab letztlich um die 250 Tote, davon 107 Kämpfer auf der Regierungsseite. 13 Aufständische wurden nach den Kämpfen hingerichtet, etwa 4000 wurden nach Wöllersdorf gebracht und saßen dort gemeinsam mit den Sozialdemokraten ein, geeint in der Ablehnung des Ständestaates. Vielen Nationalsozialisten gelang die Flucht ins Ausland, auch nach Jugoslawien, von wo sie weiter ins Deutsche Reich gebracht wurden. Als Mitglieder der „Österreichischen Legion“ sollten sie im Spanischen Bürgerkrieg und schließlich bei der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich eine Rolle spielen.
Blutig hatte sich der Ständestaat seiner Kontrahenten entledigt. Und Dollfuß, für die Linken der „Arbeitermörder“, war nun auch Märtyrer – der erste Regierungschef, der einer Aktion der Nationalsozialisten außerhalb Deutschlands zum Opfer gefallen war. Der Ständestaat aber, diese Regierungsdiktatur, von den Gegnern teilweise zutreffend Austrofaschismus genannt, sah sich einer in die Illegalität gedrängten Mehrheit von Gegnern von rechts und links ausgesetzt. Kurt Schuschnigg, der neue Regierungschef, versuchte mit einem Dollfuß-Mythos eine symbolische Überhöhung der Regierungsform, das Echo war gering.
So hatte das Jahr 1934 mit seinen blutigen innenpolitischen Auseinandersetzungen Wunden geschlagen, die lange nicht verheilen sollten. Nur von Italien gestützt, war der Staat von der Gunst Mussolinis abhängig. Das sollte sich als eine schwache Krücke erweisen, zu schwach, um in einer sich rasch verändernden weltpolitischen Situation dem Ständestaat eine Perspektive zu geben.
Helmut Konrad