Der Crash kam nicht aus heiterem Himmel: Als am 24. Oktober 1929 an der New Yorker Wall Street die Aktienkurse abstürzten, befand sich der Dow-Jones-Index schon seit Tagen im Sinkflug. Davor allerdings war er jahrelang kräftig gestiegen – und hatte damit, von der boomenden Wirtschaft befeuert, ein wahres Spekulationsfieber ausgelöst. Jetzt aber schlug unter den Anlegern die Euphorie in Panik um, die Blase platzte. Der Börsenkrach, der viele um ihr gesamtes Vermögen brachte, zog sich über mehrere Tage hin. Es war der zündende Funke, der letzte Auslöser für jenen gewaltigen ökonomischen Bruch, der schließlich als „Große Depression“ oder Weltwirtschaftskrise in die Geschichte eingehen sollte.
Auf die Ereignisse in New York reagierte man in Europa zunächst relativ gelassen. Gegen Jahresende 1929 prognostizierte mancher Experte sogar einen milden Krisenverlauf und erhoffte sich positive Wirkungen auf den europäischen Kapitalmarkt. Die Wall Street hatte enorme Geldmittel an sich gezogen, nun sollten wieder mehr Kapitalressourcen für den „alten Kontinent“ frei werden. Weit gefehlt; als Taktgeber für Welthandel und internationale Hochfinanz waren die Vereinigten Staaten längst derart bedeutsam, dass die Krise nicht nur dort für Produktionseinbrüche, Industriefriedhöfe und ein Heer von Arbeitslosen sorgte. Sie griff auch auf Europa über, wo sie das Deutsche Reich und Österreich besonders hart traf – zwei Staaten, die sich von den ökonomischen Folgen des Ersten Weltkrieges kaum erholt hatten.
Die junge Republik Österreich fand nach den dramatischen Umwälzungen des Jahres 1918 sehr langsam in die Spur. Nur durch hohe Auslandskredite und unter Aufsicht des Völkerbundes, des Vorläufers der Vereinten Nationen, konnte der massive Währungsverfall gestoppt, der desolate Staatshaushalt saniert werden. Die Wirtschaft blieb zwar ein Sorgenkind, kam in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre aber allmählich wieder in Schwung. Als nun die „Große Depression“ ab 1930 auch voll auf die Alpenrepublik durchschlug, fiel das mühsam Aufgebaute wie ein Kartenhaus in sich zusammen. In der Landwirtschaft, einem österreichischen Aushängeschild, stürzten die Preise in den Keller. Im Weiteren stark betroffen: Banken und Industrie.
Der Zusammenbruch der Creditanstalt, der mit Abstand größten heimischen Bank, war gleichsam ein Startschuss, der Politik und Wirtschaft in arge Bedrängnis brachte. Die Bundesregierung, zusammengesetzt aus Christlichsozialen und Deutschnationalen, sah sich mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert: Erstens kontrollierte die Creditanstalt nicht weniger als 42 Prozent des gesamten Aktienkapitals der österreichischen Industrie. Zweitens galt es, das Vertrauen der Auslandsgläubiger nicht zu verlieren. Hätten diese ihre Gelder aus der Bank abgezogen, das Land wäre wohl abermals in eine Währungskrise geschlittert. Staatliche Stützungsmaßnahmen und Garantieerklärungen waren somit alternativlos, doch belastete die Bankenrettung den Staatshaushalt derart schwer, dass Österreich in eine Budgetkrise taumelte. Wieder musste man sich im Ausland verschulden, wieder wurde das Land unter Völkerbundkontrolle gestellt. Den hohen Budgetdefiziten ließ die Regierung nun eine restriktive Budgetpolitik folgen – ausgerechnet zu einer Zeit, als sich die Weltwirtschaftskrise unaufhaltsam ihrem Höhepunkt näherte.
Das Wirtschaftswachstum war inzwischen massiv eingebrochen, Fabriken standen still. Die Arbeitslosigkeit wurde zum Massenphänomen; 1933 waren in Österreich fast 600.000 Menschen ohne Beschäftigung, seit dem Ausbruch der Krise hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt. Die sozialen Auswirkungen waren verheerend, auch wegen der Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung: 1937 bezog nur noch jeder zweite Arbeitslose eine Unterstützung.
Hier hakte der Nationalsozialismus ein, der in Österreich vor der „Großen Depression“ ein politisches Schattendasein geführt hatte: Er versprach Arbeit und Brot. Wie ein Magnet zog er die Menschen an und eilte bei verschiedenen Regional- und Kommunalwahlen von Erfolg zu Erfolg.
Die bürgerlichen Regierungen standen der Entwicklung mehr oder weniger hilflos gegenüber. Lange klammerten sie sich an die Hoffnung, die Krise würde von selbst „ausbrennen“. Die Erfolge staatlicher Wirtschafts- und Arbeitsbeschaffungspolitik in den USA und in Hitlerdeutschland schienen allerdings jene Ideen zu bestätigen, die der britische Ökonom John Maynard Keynes 1936 als „General Theory“ zu Papier bringen sollte.
Vor diesem Hintergrund setzte auch in Österreich ein Umdenken ein. Seit März 1933 war ein autoritäres Regime an der Macht; zunächst unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, dann, infolge der Ermordung Dollfuß’ durch die Nationalsozialisten bei deren gescheitertem Juliputsch 1934, unter Kurt Schuschnigg. Nach der Ausschaltung des Parlaments verbot die Regierung Dollfuß schrittweise die Kommunistische, Nationalsozialistische und Sozialdemokratische Partei, Letztere während der blutigen Februarkämpfe 1934. Von Deutschland aus gefördert, blieb der Nationalsozialismus trotzdem im Untergrund stark. Um seiner Propaganda Wind aus den Segeln zu nehmen, begann die autoritäre Regierung, die Arbeitslosigkeit mit Konjunkturprogrammen zu bekämpfen. Schuschnigg rief die „Arbeitsschlacht“ aus – ein Kampfbegriff, hinter dem sich in Wahrheit ein Zickzackkurs zwischen Budgetrestriktionen und aktiver Konjunkturpolitik verbarg. Große, von der öffentlichen Hand finanzierte Bauprojekte wie die Großglockner Hochalpenstraße oder die Wiener Reichsbrücke griffen zumindest punktuell; bis 1937 wurden rund 130.000 Arbeitslose abgebaut.
Auch wenn die Großprojekte eher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein waren, zeigte sich: Der internationale Aufschwung wurde auch in Österreich spürbar, wenn auch noch schwach. Als die Unabhängigkeit Österreichs im März 1938 ihr abruptes Ende fand, war die Talsohle der Wirtschaftskrise bereits durchschritten.
Walter Iber