Wer sich mit der Geschichte der Sozialdemokratie beschäftigt, kommt an den beiden Österreichern Karl Renner und Otto Bauer nicht vorbei. Beide sind legitime Erben des Parteigründers Victor Adler, der für die alte k. k. Sozialdemokratie stand und der gleichzeitig mit dem Verlöschen der Monarchie zu Grabe getragen wurde.
Renner, der gut ein Jahrzehnt Ältere, stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Der 1881 geborene Otto Bauer hingegen entspross einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie, deren sozialer Aufstieg sich in der Generation vor Otto vollzogen hatte. Sie starteten daher mit unterschiedlichen Bildungschancen, erkannten aber, als sie sich der Sozialdemokratie zuwandten, praktisch parallel, dass sich das Schicksal Österreichs an der Lösung oder aber dem Scheitern an der nationalen Frage entscheiden würde. So bildeten die Arbeiten der beiden Männer die Grundlage des sogenannten „Austromarxismus“, der österreichischen Spielart des Marxismus.
Renner, der Pragmatiker, entwickelte Lösungsstrategien, die für ihn vor allem im Personalitätsprinzip lagen, also in der Knüpfung nationaler Rechte an die Person und nicht an ein Territorium. Bauer, der Theoretiker, versuchte zu entschlüsseln, was denn nun eine Nation ausmachte. Zu sehr war er der deutschen Kultur verpflichtet, um nicht der Sprache eine zentrale Rolle zuzumessen. Er ging aber weiter und sprach von Kommunikation, auch nonverbaler, sprach von einem gemeinsamen, verdichteten Geschichtsbild. Nation war also Kommunikation plus „geronnene Geschichte“.
Bauer trat 1919 als Außenminister zurück, weil er mit seinem anerzogenen Deutschnationalismus, den er mit dem Marxismus zu verbinden versuchte, den Verlust Südtirols nicht verkraftete. Er war ein Feuerkopf und scheiterte gründlich: 1919, 1927, 1934 und letztlich mit seinem Tod im Pariser Exil knapp nach der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich.
Nach dem Tod von Victor Adler am Vorabend der Ausrufung der Republik war Otto Bauer die unbestrittene Führungsfigur der österreichischen Sozialdemokratie. Dass er nicht Parteivorsitzender war (diese Funktion hatte der Wiener Bürgermeister Karl Seitz inne), war auch Ausdruck der zumindest latent vorhandenen antisemitischen Grundstimmung an der Basis. Aber Bauer gab den Ton an und die Richtung vor, saß in der Redaktion der „Arbeiterzeitung“, war Mitherausgeber der theoretischen Monatsschrift „Der Kampf“, war der Wortführer im Parlament.
Im Rückblick auf die Geschichte der Ersten Republik ist es Otto Bauers größtes Verdienst, die Einheit der österreichischen Arbeiterbewegung bewahrt zu haben. Während etwa in Deutschland der Gegensatz von Sozialdemokraten und Kommunisten letztlich den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigte, da zwei starke linke Parteien sich wechselseitig behinderten, ließ die Politik Bauers in Österreich keinen Platz links von der Sozialdemokratie zu. Die „radikale Phrase“ begeisterte die Massen, und wenn man einmal zur Revolution voranschreiten wollte, war Bauer zur Stelle, um die Hitzköpfe mit seinen Reden einzufangen. Daher ist das relativ lange Funktionieren der österreichischen Demokratie nicht zuletzt sein Verdienst, zumal sich hinter heftigen Worten stets auch die Einhaltung der demokratischen Spielregeln und das Ringen um Kompromisse verbarg. Nicht zuletzt wurde das in der sozialdemokratischen Zustimmung zur Verfassungsänderung von 1929 sichtbar.
Otto Bauer war aber vor allem Theoretiker. Nachdem sich die Beschäftigung mit der nationalen Frage nach 1919 erübrigt hatte und Bauer als nachdrücklicher Vertreter des Anschlusses an ein demokratisches Deutschland gescheitert war, wandte er sich anderen Themen zu. Er analysierte den Umbruch 1918 als „österreichische Revolution“, beschäftigte sich mit der Agrarfrage und mit dem Thema Religion. Neben seinen Büchern liegen gut 4000 Artikel vor, sein Gesamtwerk hat die Diskussion zum Thema Nation weltweit beeinflusst und ist bis heute gut erschlossenes Studienobjekt.
So scharfsinnig Bauer analysierte, so zögerlich handelte er. Als die Regierung Dollfuß das Parlament ausschaltete, gab es keinen Aufstand der Sozialdemokratie, wie sie es in ihrem Linzer Programm angekündigt hatte. Auch die nächsten Schritte am Weg in eine Diktatur ließen Bauer zögern. Und als sich schließlich am 12. Februar 1934 die Arbeiter in Linz gegen eine Hausdurchsuchung des Parteilokals mit Waffen wehrten, schreckte der Parteivorstand vor umfassenden Kampfmaßnahmen zurück. Heraus kam ein defensiver Kampf, eine symbolisch hoch aufgeladene Auseinandersetzung mit der beginnenden Diktatur.
Bauer flüchtete in die Tschechoslowakei, zog dann weiter nach Paris, wo er diesen österreichischen Februar scharfsinnig analysierte. 1936 sah er den Zweiten Weltkrieg voraus. In seinem letzten Buch „Zwischen zwei Weltkriegen“ schien ihm die Einheit der Arbeiterklasse in einer Art „integralem Sozialismus“ die einzig realistische Gegenposition zu den europäischen Faschismen zu sein.
Otto Bauer starb am 5. Juli 1938 an einem Herzinfarkt. Den Ausbruch des vorhergesagten Zweiten Weltkriegs hat er nicht mehr erlebt. Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise, gegenüber der Gedenkstätte für die Kommunarden der Pariser Kommune von 1871, liegt das Grab jenes Mannes, der Österreich nicht so gestalten konnte wie sein Gegenüber Karl Renner, dessen Denken aber Generationen nach ihm beeinflusste.
Helmut Konrad