Ein 60-jähriger Mann, der seit Jahrzehnten an paranoider Schizophrenie leidet, ist am Donnerstag von einem Wiener Schwurgericht (Vorsitz: Christoph Bauer) in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen worden. Er hatte am 14. Mai 2017 in der Bundeshauptstadt auf seine Stieftante eingestochen. Dass die pensionierte Zahnärztin überlebte, grenzt an ein Wunder.
Der erste Stich drang der 61-Jährigen elf Zentimeter tief in den Nacken und beschädigte die Halsschlagader, der zweite, der Sehnen und Nerven durchtrennte, ging in einer Tiefe von sieben Zentimeter ins Ohr. Danach warf der Angreifer das Messer weg und flüchtete vom Tatort. Die Ärztin verständigte noch selbst die Rettung und die Polizei, und was danach passierte, raubte dem Gericht den Atem, als die Frau im Zeugenstand berichtete.
Kein Spital wollte Opfer
Während sie auf der Krankenbahre im Rettungswagen lag und gegen die einsetzende Bewusstlosigkeit ankämpfte, bekam die 61-Jährige mit, dass die Sanitäter nicht recht wussten, in welches Spital sie die Patientin bringen sollten. Die Schwerverletzte musste mitanhören, dass sie von diesem und jenem Krankenhaus "abgelehnt" würde. "Ich hab' dann denen vorgeschlagen, dass wir nach St. Pölten fahren", erinnerte sich die Zeugin. Darauf sei ihr lapidar beschieden worden: "Das geht sich nicht mehr aus."
Letzten Endes wurde die 61-Jährige ins Wiener AKH überstellt. Eine fünfstündige Notoperation rettete ihr das Leben. Die Zahnärztin, die sich inzwischen wieder in erstaunlich guter Verfassung befindet ("Das wundert alle Leute"), hat sich dessen ungeachtet offiziell bei der Patientenanwaltschaft beschwert.
"Versprechen nicht eingehalten"
Weshalb der "Lange Robert", wie sie den Angreifer aufgrund seiner Körpergröße zu nennen pflegte, ihr von hinten die Stichwunden zufügte, sei ihr ein Rätsel, gab die 61-Jährige zu Protokoll: "Ich hab' überhaupt keine Ahnung, warum er mich, die ihm nur Gutes will, so attackiert." Seit über 20 Jahren betreuten die Zahnärztin und ihr Ehemann den psychisch Kranken, der immer wieder obdachlos war, teilweise auf einem Bauernhof im Waldviertel, dann wieder im Wald lebte.
Er habe zugestochen, "weil sie ihr Versprechen nicht eingehalten hat", lautete die Begründung des Kranken. Seine Stieftante, die "mit ihren Golfpartnerinnen weltweit Verbrechen begeht", habe nicht Geld ins Waldviertel überwiesen, das einer Bäuerin zugestanden hätte. Darüber hinaus habe die Stieftante ihn vier Mal zu vergiften versucht. Beim Zustechen "hab' ich mir nicht überlegt, ob sie überlebt oder nicht. Es war mir wurscht", sagte der 60-Jährige.
"Die Einweisung war alternativlos", stellte der Richter in der Urteilsbegründung unter Verweis auf das psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Karl Dantendorfer fest. "Der Fall ist völlig klar", hatte Dantendorfer zuvor den Geschworenen erklärt. Der Mann sei schwer krank, aber krankheitsuneinsichtig. Er sei zurechnungsunfähig und "hochgefährlich", weshalb die Unterbringung im Maßnahmenvollzug "der einzig gangbare Weg" sei.
Leben in "Atomreaktoren"
"Es gibt keine Schizophrenie", hatte dagegen der 60-Jährige in seiner ausführlichen Einvernahme behauptet. Diese vorgebliche Krankheit hätte man "in den Folterkammern der Nazis erzeugt". Er leide allenfalls an Panikattacken und hätte Probleme mit seinem Selbstwertgefühl: "Ich hab' mein Leben verpfuscht in Sex-Kinos und mich danach in Bibliotheken geflüchtet. Ich hab' mein Leben lang nur gelesen, nichts gearbeitet, keine Familie gegründet." Zuletzt hätte er "in zwei kleinen Atomreaktoren auf dem Gelände der alten Technischen Universität gelebt".
Die Einweisung ist nicht rechtskräftig. Der Verteidiger will sich noch in aller Ruhe mit dem 60-Jährigen besprechen und erbat daher Bedenkzeit.