Eine Leiche, die sich im Kühlhaus der Pathologie aufsetzt und zu sprechen beginnt. Was nach einem Horrorfilm klingt, hat Gerichtsmediziner Christian Reiter in den 1970ern tatsächlich erlebt. „Ich habe mich so erschrocken, dass ich die Türe, sofort wieder geschlossen habe“, sagt er. Der Vorfall ist nur eine der Geschichten, die er aus seiner 50-jährigen Karriere erzählen kann.
Detailarbeit in Puzzleoptik
Denn immerhin hat er rund 10.000 Leichen untersucht. Darunter auch zahlreiche berühmte Fälle wie Ötzi oder die Opfer der „Todesengel von Lainz“. Dabei steckt der Teufel meist im Detail. Im Fall rund um die Krankenschwestern aus Lainz, die Patienten systematisch bei der sogenannten „Mundpflege“ töteten, lieferte er schließlich das fehlende Puzzlestück. „Mein Glück war, dass es einen Patienten gegeben hat, der gleich nach seinem Tod von Pathologen seziert wurde. Anhand der Proben habe ich erkannt, dass es Parallelen zum Tod durch Ertrinken gibt“, erzählt er. Damit war der Groschen gefallen. Mit dem Bild, das im „Tatort“ mit Professor Borerne gezeichnet wird, hat der Alltag nur wenig zu tun.
„Dort schiebt ein Gerichtsmediziner ein Röhrchen Blut in ein Gerät und bekommt in Sekunden heraus, womit der Tote vergiftet wurde und wo das Gift erhältlich ist. Im echten Leben dauert das etwas länger“, sagt er. Angesehen hat er die Serien dennoch – aus beruflichen Gründen. Denn viele Täter ließen sich davon inspirieren.
In der Pathologie ist er während eines Ferialpraktikums durch Zufall gelandet. „Bevor ich viel nachdenken konnte, habe ich die erste Leiche angegriffen. Die Faszination war vom ersten Moment an da“, erzählt er. Besonders wichtig: eine objektive Distanz. „Am einfachsten war es immer, wenn man möglichst wenig über den Toten wusste“, sagt er.
Ein Gefühl von Ekel gab es bei ihm dabei nie. „Ekel ist etwas Anerlerntes, irgendwann überwiegt die Neugierde“, meint Reiter. Der Körper, aus dem das Leben entwichen ist, sei dabei für ihn das „Untersuchungsmaterial“, das viele Fragezeichen kläre.
Spaziergänge auf Wiener Friedhöfen
Erste Berührungspunkte mit dem Tod hatte er bereits während seiner Kindheit. Mit seiner Urgroßmutter war er häufig auf Wiener Friedhöfen unterwegs. „Sie hatte viele Gräber zu pflegen und war der Meinung, kleine Kinder gehören an die frische Luft“, sagt Reiter. So fuhr er als Kind mit Spielzeugautos über Grabplatten und malte sich aus, wie die Toten in den Gräbern wohl aussehen. „Die meisten Menschen beschäftigen sich nur zu Allerheiligen mit dem Tod, als Gerichtsmediziner ist einem die eigene Vergänglichkeit bewusster.“
Sorgen um das Interesse an dem Beruf macht er sich aber nicht. Allerdings: „Die Justiz bezahlt Gerichtsmediziner im Vergleich zu anderen Sachverständigen sehr schlecht, das hält die Universitäten davon ab, die Abteilungen auszubauen. Dieses Problem haben wir bereits seit Beginn meiner Tätigkeit“, sagt er.