Lisa-Marie Schwab ist wie weggetreten. Ein Glas Vodka-Bull hat sie an diesem Samstagabend im Grazer Bollwerk getrunken, mehr nicht. Doch wenig später findet sich die damals 16-Jährige auf der Toilette wieder.Ihre Freundin ist verzweifelt, sie hat Lisa-Marie noch nie so gesehen. Da bietet ein Mann im Club seine Hilfe an. Immer wieder nähert er sich den Jugendlichen. „Er hat gesagt, wir sollen doch mit ihm mitfahren.“ Dann hebt er Lisa-Marie Schwab hoch, will sie wegtragen. „Ich war so am Ende, komplett weggetreten. Ich hätte nicht einmal um Hilfe schreien können“, erinnert sich die heute 22-Jährige. Ihrer Freundin, die dazwischengeht, hat sie es zu verdanken, dass sie im Krankenhaus landet. Dort wird ihr Blut abgenommen. Auf dem Laborbefund steht schwarz auf weiß: K.o.-Tropfen. Fast eine Überdosis, erklären ihr die Ärzte.
Die Straftaten mit K.o.-Mitteln haben in den letzten Jahren zugenommen. Meist sind die Opfer Frauen, die Täter Männer. Auf die Verabreichung folgen oft sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen oder Raub. Nur diese Fälle werden von der Statistik erfasst, 2023 gab es 123 (2022: 115), wobei die Dunkelziffer laut Expertinnen und Experten sehr viel höher ist. Die K.o.-Mittel sind leicht zu beschaffen, etwa über das Internet. Wobei, die einen K.o.-Tropfen gibt es nicht, erklärt Toxikologe Wolfgang Bicker. Je nach Mittel ist die Wirkung eine andere: Schwindel, Übelkeit, Erinnerungslücken aber auch Euphorie und Enthemmung.
„Es war eine Vergewaltigung“
Sie hat sich gar nicht wiedererkannt, erzählt eine 26-jährige Grazerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Noch nicht einmal ein Jahr ist es her, dass sie und ihre beste Freundin auf ihrem Auslandssemester in Miami missbraucht wurden. „Die Party war tagsüber, es waren mehr Frauen als Männer da, ich habe mich sicher gefühlt“, erzählt die junge Frau. Zuerst gibt sich ihre sonst eher introvertierte Freundin nach einem Drink ungewöhnlich ausgelassen, dann merkt auch sie, wie die Hemmschwelle sinkt. Die zwei Männer, die die Party schmeißen, führen die zwei Freundinnen in ihr Schlafzimmer. Zweimal sagt die Grazerin „Nein“. „Ich wollte aufstehen, aber ich hab mich nicht bewegen können. Ich war wie gelähmt und ausgeliefert.“
Am nächsten Tag haben die Frauen blaue Flecken und Erinnerungslücken. Sie fragen sich: „Sind wir schuld, haben wir falsche Signale gesendet?“ Drei Tage später zurück in Graz, die beiden Frauen gehen zur Gewaltambulanz. Es stellt sich heraus, dass die Freundin der Grazerin eine Geschlechtskrankheit hat. Die Grazerin selbst spricht mit einem Psychologen: „Ich hab mich irrsinnig geschämt. Erst durch das Gespräch ist mir klar geworden, dass es eine Vergewaltigung war.“ In der jungen Frau bricht eine Welt zusammen, gleichzeitig ist sie erleichtert, weil sie das, was ihr angetan wurde, endlich benennen kann.
Die Dunkelziffer der K.o.-Tropfen-Fälle ist auch deshalb so hoch, weil die Substanzen sich in der Regel nur wenige Stunden, maximal drei Tage nachweisen lassen – und den Betroffenen geht es in den meisten Fällen so schlecht, dass sie es nicht ins Spital oder zur Polizei schaffen. Deswegen ist auch die Aufklärung der Fälle schwer, weiß die Wiener Anwältin Katharina Braun. Sie werde immer öfter mit K.o.-Tropfen-Fällen konfrontiert. Schon allein das Verabreichen ist eine Straftat. Oft endet es mit einer Anzeige gegen Unbekannt.
„Mir ist es so schlecht gegangen, wie noch nie“
Larissa Schenk erinnert sich noch an ihre Angst, nachdem ihr klar wurde, dass ihr letztes Jahr bei einem Frühlingsfest in der Südoststeiermark K.o.-Tropfen verabreicht wurden. „Ich hab herumgefragt, ob ich je alleine war”, erinnert sich die 22-Jährige. Sie hat ihre Erinnerungen an die Nacht und das Fest nach nur wenigen Mix-Getränken weitgehend verloren. „Gott sei Dank haben mir meine Freunde versichern können, dass sie aufgepasst haben, bis meine Mama mich abgeholt hat.“
Eine andere Betroffene (24) erzählt: „Mit ist es so schlecht gegangen, wie noch nie in meinem Leben.“ Sie hatte an dem Abend nur einen Glühwein und einen halben Spritzer getrunken, weil sie wusste, dass sie am nächsten Tag früh hinausmuss, zu einem Konzert. Eine Freundin habe es damals auch erwischt. Als klar war, dass es K.o.-Tropfen gewesen sein mussten, hat die junge Frau sich gedacht: „Scheiße, jetzt hat es mich auch einmal erwischt. Es erwischt ja fast jeden einmal.“
„Hört auf, den Frauen K.o.-Tropfen zu geben!“
Betroffene verfolgt das Erlebte, weiß Ina Mastnak, Leiterin der Frauenberatungsstelle Tara. „Es ist wahnsinnig belastend, sich nicht erinnern zu können, geschweige denn sexuelle Übergriffe erlebt zu haben.“ Heidemarie Kargl vom Wiener Frauennotruf beobachtet ebenfalls einen „kontinuierlichen Anstieg der Fälle. „In der Gesellschaft braucht es noch einen tiefgreifenden Wandel, damit Frauen und Mädchen geglaubt wird, auch wenn die Taten und das Verhalten des Täters schwer zu glauben sind“, sagt die Expertin. Mastnak wünscht sich, dass die von der Politik versprochenen Gewaltambulanzen schnell in ganz Österreich installiert werden. Und sie fordert eine Kampagne, die sich an die Täter richtet, mit der klaren Botschaft: „Hört auf, den Frauen K.o.-Tropfen zu geben!“
Jene 26-jährige Grazerin, die in Miami zum Opfer geworden ist, wünscht sich mehr Aufklärung über K.o.-Tropfen und ihre mögliche Wirkung und die rechtlichen Möglichkeiten, die man nach einem Übergriff hat. „Schon in der Schule sollte man das besprechen. Es muss mit dem Tabu gebrochen werden. Auch wenn man das, was passiert ist, nicht selber aussprechen oder zuordnen kann, macht es das nicht richtig.“