Es ist zu befürchten gewesen und seit Montagnachmittag offiziell: Die „neue“ Weststrecke der Bahn wird im Abschnitt Wien - St. Pölten nach der jüngsten Hochwasserkatastrophe noch monatelang nicht benützbar sein. Der Schaden liege im dreistelligen Millionenbereich, erklärte Judith Engel, Vorständin der ÖBB-Infrastruktur AG, bei einem Pressegespräch am Bahnhof Tullnerfeld. Wann der Betrieb in dem Streckenabschnitt wieder aufgenommen wird, ist vorerst ungewiss.
Video zeigt Verwüstungen in Tunnel und Bahnhof
Der Bahnhof Tullnerfeld und der Tunnel Atzenbrugg sind vom Hochwasser besonders stark getroffen worden. Wie groß das Ausmaß der Beschädigungen ist, sei erst in den vergangenen Tagen sichtbar geworden, nachdem die Feuerwehr das Wasser, das einen Meter hoch gestanden war, abgepumpt hatte, so Engel. Es sei damit zu rechnen, dass der Wiederaufbau mehrere Monate dauern werde. Das Jahrhunderthochwasser habe Jahrhundertschäden an der Schieneninfrastruktur hinterlassen.
Der Bahnhof Tullnerfeld sei das Symbol für den Schaden der Jahrhundertflut, führte Engel weiter aus. Alle elektrischen Anlagen seien geflutet und zerstört. Christian Burkhart, Bezirksfeuerwehrkommandant von Tulln, bezeichnete die Lage in Tullnerfeld als „langwierige Geschichte“. Das Wasser sei ebenso wie im Tunnel Atzenbrugg, wo auch die Gleise vom Schlamm befreit wurden, am Wochenende abgepumpt worden. „Aber leider steigt das Grundwasser stark.“ Die Halle war demnach auch am Montag noch immer nicht trocken.
Im 2,5 Kilometer langen Tunnel Atzenbrugg ist laut Engel davon auszugehen, dass die elektrischen Anlagen komplett neu installiert werden müssen. Es gebe dort ebenso wie im Bahnhof Tullnerfeld nach wie vor keine Stromversorgung. Im Lainzer Tunnel, der Verbindung von Wien-Meidling zur Weststrecke, und beim Knoten Hadersdorf hat es der Vorständin zufolge durch das Hochwasser auf dem Wienfluss ebenfalls Wassereintritte und Überflutungen gegeben. Die Folge seien auch hier Schäden an der Elektroinstallation und an Weichenantrieben sowie kaputte Gleisteile.
Die „alte“ Weststrecke durch den Wienerwald soll ab 10. Oktober wieder zweigleisig befahrbar sein, blickte Engel am Montag voraus. Bis dahin sollen restliche Vermurungen geräumt und Gleisschäden repariert sein. Sie sei „zuversichtlich“, dass der Termin halte, so die Vorständin. Ehe es so weit sei, würden Messfahrten stattfinden. Sicherheit auf der Strecke gehe jedenfalls vor.
Die Weststrecke ist die am stärksten befahrene Verbindung der ÖBB. An normalen Tagen verkehren zwischen Wien und St. Pölten etwa 550 Personen- und Güterzüge. Aufgrund der Unterbrechung sind es aktuell nur etwa 150. Mit der Inbetriebnahme des zweiten Gleises auf der „alten“ Strecke soll die Kapazität auf etwa 300 angehoben werden. Das entspricht laut Engel dem Niveau des Jahres 2012. Damals wurde die neue Verbindung eröffnet. Es werde „mit Hochdruck“ gearbeitet, versicherte die Vorständin.
Raum St. Pölten und Bezirk Tulln bleiben Katastrophengebiet
Die Stadt St. Pölten sowie die Bezirke St. Pölten-Land und Tulln bleiben nach dem Hochwasser in Niederösterreich weiterhin Katastrophengebiet. In allen anderen Regionen wird dieser Status aufgehoben, sagte Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) am Montag bei einer Pressekonferenz. Das Bundesland sei jedoch „noch lange nicht in der Normalität zurück“. Aufräumarbeiten und Schadensbeseitigung gingen auch zum Start der neuen Woche weiter.
Der Katastrophengebiet-Status war am 15. September über das gesamte Bundesland verhängt worden. Am Donnerstagabend gab es eine teilweise Aufhebung, betroffen davon waren die Bezirke Amstetten, Hollabrunn, Lilienfeld, Mistelbach, Scheibbs, Wiener Neustadt-Land und Waidhofen a. d. Thaya sowie die Statutarstädte Krems, Waidhofen a. d. Ybbs und Wiener Neustadt.
Hochwasserhilfe aufgestockt
„Die Katastrophe wird uns allen noch sehr viel abverlangen“, unterstrich Mikl-Leitner infolge einer Lagebesprechung im St. Pöltner Landhaus. Bei der Bevölkerung würden Sorgen, Ängste und auch Traumatisierungen vorliegen. „Alles, was wir tun können, um das Leid zu lindern, werden wir tun“, kündigte die Landeschefin an. Verwiesen wurde auch auf die Aufstockung der Hochwasserhilfe. Die Ersatzrate soll hier auf mindestens 50 Prozent angehoben werden, in Härtefällen auf bis zu 80 Prozent.
Schätzung des Milliarden-Gesamtschadens noch offen
Bis wann die Gesamtschäden der jüngsten Unwetterkatastrophe in Milliardenhöhe genauer abschätzbar sind, ist derzeit offen. Bis dato wurde von Regierungsseite noch keine Studie zur umfassenden Schadensabschätzung in Auftrag gegeben. Der Versicherungsverband (VVO) rechnet vorerst mit versicherten Schäden in Höhe von bis zu 600 bis 700 Mio. Euro. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Schadenssumme, weil viele Menschen nicht gegen Hochwasser- oder Sturmschäden versichert sind.
Zum Vergleich: Das Jahrhunderthochwasser von 2002 hat insgesamt 3 Mrd. Euro an volkswirtschaftlichen Schäden verursacht, von denen 420 Mio. Euro versichert waren. 2002 ließ die Regierung den Gesamtschaden durch das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) schätzen.
Wifo-Chef Gabriel Felbermayr rechnet mit einem Milliarden-Gesamtschaden für Private, Betriebe und die öffentliche Hand. „Wenn man hochrechnet aus ähnlichen Hochwassern oder Extremwetterereignissen der Vergangenheit, dann kommt man schnell auf mehrere Milliarden Euro an Schaden“, sagte Felbermayr am vergangenen Dienstag im „Report“ des ORF-Fernsehens. Vieles sei noch unklar, zum Beispiel wie die Verkehrsinfrastruktur betroffen sei, was man neu bauen müsse, was reparier- oder sanierbar sei. „Es ist mit Sicherheit das teuerste Großereignis, das wir in Österreich jemals gesehen haben“, sagte Felbermayr. „Allein schon, weil seit dem letzten großen Hochwasser vor 22 Jahren die Preise und alles andere deutlich teurer geworden ist.“