Frachtenbahnhof Wien-Hietzing. Es ist kurz nach Weihnachten, genauer der 27. Dezember 2022. Jacob Kennedy ist mit seinem besten Freund unterwegs. Der damals 14-Jährige hat vor ein paar Jahren das Graffiti-Sprayen für sich entdeckt. In Wien hat der junge gebürtige Amerikaner seine Szene gefunden, er verbringt viel Zeit am Donaukanal, arbeitet an seinen Kunstwerken. Der Frachtenbahnhof ist ein neuer Ort, den die Jugendlichen ausprobieren wollen. Seiner Mutter hat Jacob Bescheid gegeben, Elana Kennedy vertraut ihrem Sohn, er ist gut in der Schule, spielt Klavier und Baseball, hat viele gute Freunde. An diesem Tag dämmert es schon, Jacob klettert auf einen Zugwaggon, streckt den Arm aus, mit der Farbdose in der Hand. Dann plötzlich ein Blitz und ein Knall.
Elana Kennedy ist zu der Zeit gerade im Keller. Sie sucht nach Skiern, Freunde hatten sie danach gefragt. Die Kennedys selbst würden sie in diesen Winterferien nicht brauchen, sie wollen in den nächsten Tagen nach Afrika aufbrechen. Elana Kennedy und ihr Mann sind Diplomaten, also viel unterwegs. Sie haben mit ihren beiden Kindern, Jacob und Alexandra, etwa schon in Schweden und Bangkok gelebt. Elana hat keinen Empfang im Keller, als sie auf dem Weg zurück nach oben ist, hört sie ihre 17-jährige Tochter schreien. „Da ist was mit Jacob!“
Wie gefährlich sind Zugoberleitungen?
Stromschlag ohne Berührung
Jacob Kennedys Körper trifft ein 15.000 Volt starker Stromschlag. Der Bursche hat die Oberleitung am Frachtenbahnhof nicht berührt, doch er ist ihr zu nahe gekommen. Über den sogenannten Lichtbogen ist die Spannung über die Farbdose auf ihn übergesprungen. Der Stromkreis hat sich durch seinen Körper geschlossen. 65 Mal stärker als durch eine Steckdose im Haushalt fließt der Strom durch ihn. Am rechten Arm tritt er ein, am rechten Zeh wieder heraus. Durch die Wucht wird Jacob von mehreren Metern Höhe auf den Boden geschleudert. Sein bester Freund ruft sofort die Rettung.
Ein Ärzteteam kämpft im AKH Wien um Jacobs Leben. Der 14-Jährige liegt vier Wochen im Koma, verliert seinen rechten Arm, ist querschnittgelähmt. Die Welt steht kopf. „Wir haben nicht gewusst, wann er aufwachen wird, ob sein Gehirn Schäden haben wird oder ob er uns erkennen wird“, erinnert sich Elana Kennedy.
Eine von Jacobs Ärztinnen ist die plastische Chirurgin und Verbrennungsspezialistin Viktoria König. Es ist nicht der erste „Zugkletterer“, der auf ihrer Station landet. Jedes Jahr wird etwa ein junger Mann im Alter von 14 bis 25 Jahren mit den verschiedensten sozialen Hintergründen eingeliefert. Nicht alle überleben. Zuletzt ist ein 16-Jähriger nach einem Stromschlag auf einem ÖBB-Gelände in Wien-Penzing an seinen schweren Verletzungen gestorben.
„Man muss sich das so vorstellen“, erklärt König, „bei einer Spannung von 15.000 Volt beginnt der Körper oft zu brennen. Einfach ausgedrückt, könnten wir sagen, dass die Muskeln quasi gekocht werden und an den Stellen, wo der Strom eintritt, entstehen verkohlte Bereiche.“ Dazu kommt, dass die jungen Menschen nach dem Stromschlag auf den Boden geschleudert werden und sich schwere Begleitverletzungen zuziehen. Die möglichen Folgen: schwerste Brandwunden, Herzrhythmusstörungen, Knochenbrüche und Hirnblutungen.
Von Mutproben bis „Trainsurfern“
Hinter den Unfällen stecken meist Mutproben, Gruppenzwang, der Wunsch nach „coolen“ Selfies, einer schönen Aussicht oder Graffiti sprayen. Die wenigsten wissen von der Gefahr. „Strom sieht man nicht, man hört und riecht ihn nicht. Aber er ist da und kann auch ohne direkter Berührung der Oberleitung überspringen“, betont ein ÖBB-Sprecher.
Als Jacob das erste Mal wieder seine Augen öffnet, spielt ihm seine Familie eines der Lieblingslieder der Kennedys vor: Kung Fu Fighting. Jacob lächelt. „Ich war so erleichtert“, erzählt Elana Kennedy. Sie, Jacobs Vater und seine Schwester lassen sich die Graffiti-Signatur des Burschen, „Sieno“, tätowieren, um zu zeigen: „Wir halten zusammen, wir schaffen das.“ Es folgen unzählige Operationen, Reha und Physio. Manchmal hat Jacob schlechte Tage. Dann sagt ihm seine Mutter: „Es ist nicht deine Schuld, du hast es nicht besser gewusst, du hast gedacht, es ist sicher.“
Ganz im Gegensatz zu Jacob gibt es aber auch „Trainsurfer“, die sich mit Absicht in Gefahr begeben. Auf der Plattform „TikTok“ findet man einige Videos von ihnen. Adrenalin steht im Fokus, mit Zügen kennen sie sich oft gut aus. „Die sehen das als Sportart, günstiger als Skifahren oder Bungeejumping“, weiß Chirurgin König. Ein „Trainsurfer“ lande immer wieder auf ihrer Station, mal mit leichteren, mal mit schwereren Verletzungen. „Wir versuchen mit den ÖBB Aufklärungsarbeit zu leisten, aber diese Gruppe ist schwer zu erreichen“, sagt Chirurgin König.
Schritt für Schritt
Gegen das Unwissen der Jugendlichen gebe es aber Mittel. Die ÖBB veranstalten jedes Jahr zu Schulbeginn eine Sicherheitskampagne auf Bahnhöfen und in Medien. Auch Vorträge an Schulen werden gehalten. König wünscht sich noch mehr und regelmäßigere Maßnahmen. „Ja, es sind nicht viele Fälle, aber jeder ist einer zu viel und die Folgen sind extrem schlimm.“
Jacob will andere auf die Gefahren aufmerksam machen. Doch er tut sich selbst noch oft schwer, zu fassen, was da mit ihm passiert ist. Jeden Schritt feiert die Familie: Jacob konnte zum Schulabschluss seiner Schwester nach Wien fliegen. Er malt wieder und spielt ein bisschen Klavier. Im Herbst bekommt er eine Armprothese. In ein paar Jahren möchte er in Wien studieren. Am liebsten in Richtung Kunst und Geisteswissenschaft.