Wien, 1999: Michael Woditschka ist jung und gern unter Menschen. Der damals 19-Jährige arbeitet in einer Disco als Kellner. „Da war man halt irgendwie der Superheld“, erinnert sich der heute 45-Jährige zurück. Woditschka war das, was alle Menschen in diesem Alter sind: Neugierig auf das, was das Leben noch so bereithält. Doch es braucht nur eine Nacht und der bisher unbescholtene Mann findet sich auf der Anklagebank wieder.
Aber der Reihe nach: Woditschka lernt beim Feiern einen 17-Jährigen kennen. Die beiden treffen sich ein paar Mal, führen eine sexuelle Beziehung. Schlussendlich verläuft die Begegnung im Sand. So weit, so unspektakulär. Dann wird der 17-Jährige von der Polizei aufgegriffen. Dass er sich mit einem anderen Mann im Auto vergnügte, erregte die Aufmerksamkeit der Beamten. Unter Druck gesteht er seine Homosexualität – und auch die Treffen mit Woditschka. Per Post wird dieser zur Wache zitiert. „Und plötzlich sitze ich da und der Polizist gibt mir das Strafgesetzbuch – aufgeschlagen bei Paragraf 209.“ Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Minderjährigen, so der Vorwurf.
Woditschkas Geschichte im Video:
Woditschka wird verhört. Auf der Wache und vor Gericht muss er bis ins kleinste Detail erzählen, was er mit dem 17-Jährigen am liebsten gemacht hat. Vor ihm: der Richter. Hinter ihm: Österreichs Medienlandschaft. „In dem Moment hätte ich mir nur gewünscht, dass der Boden aufgeht und mich verschlingt. Es war eine Brüskierung, eine Demaskierung, eine Peinlichkeit sondergleichen.“ Und das, obwohl im Urteil geschrieben steht, dass auf beiden Seiten Interesse da war.
Doch das spielte keine Rolle. Der Altersunterschied war per Gesetz der springende Punkt. Bis zu fünf Jahre Haft sind damals für Sex mit unter 18-Jährigen vorgesehen. Für heterosexuelle Paare galt der Paragraf freilich nicht. „Mein Mandant hat nichts anders getan, als das, was andere Jugendliche auch tun. Aber sein Partner hatte das ‚falsche‘ Geschlecht“, wird später Anwalt Helmut Graupner vor Gericht appellieren. Erfolglos. Der Angeklagte wird zu einer Mindeststrafe von 4500 Schilling verurteilt.
Kein Einzelfall
Das Schicksal von Michael Woditschka ist kein Einzelfall. 15.678 Personen wurden in der Zweiten Republik verfolgt – wegen einvernehmlichen homosexuellen Handlungen, wegen Prostitution, wegen Pornografie. 11.000 von ihnen dürften heute noch am Leben sein.
Zwar wurde Homosexualität im Jahr 1971 im Wesentlichen entkriminalisiert. Doch es gab Sonderparagrafen rund um Minderjährigkeit – und die Polizei scheute nicht davor zurück, sie durchzusetzen. Erst seit 2002 müssen homosexuelle Menschen das österreichische Gesetzbuch nicht mehr fürchten. Die letzten Bestimmungen wurden vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) aufgehoben. Eine Entscheidung, die in anderen Ländern längst gefallen war.
ÖVP und FPÖ blockieren
Ernsthafte Bemühungen, verfolgte Opfer zu rehabilitieren, wurden seitens ÖVP und FPÖ allerdings jahrelang blockiert. Bis jetzt. Seit Februar können Menschen, die strafrechtlich verfolgt oder verurteilt wurden, eine Entschädigung beantragen. Das zur Verfügung gestellte Budget: 33 Millionen Euro. „Mit der Aufhebung der Urteile und der finanziellen Entschädigung übernehmen wir als Staat Verantwortung für unsere Geschichte“, sagt Justizministerin Alma Zadić (Grüne).
Ob dieses Angebot angenommen wird? Ein Blick ins deutsche Nachbarland lässt Zweifel aufkommen. Auf 5000 noch lebende Opfer, die wegen einvernehmlicher Handlungen verurteilt wurden, kommen lediglich 268 Männer, die eine Entschädigung beantragt haben. Die Stolperfallen: nicht mehr vorhandene Dokumente, die Angst vor erneutem Kontakt zu den Behörden sowie erhöhter Unterstützungsbedarf aufgrund von Hochaltrigkeit und Pflegebedürftigkeit. „Viele der Betroffenen konnten und wollten aus Angst vor einer Retraumatisierung und erneuter Diskriminierung keinen Antrag auf Entschädigung stellen“, fasst es die Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren zusammen.
Der Wissenschaftler Hans-Peter Weingand von der Uni Graz stimmt dem zu: „Dass sich die Leute das nicht mehr antun wollen, ist verständlich.“ Womöglich hätten viele ihre Unterlagen sogar noch daheim. „Aber eigentlich will man sich gar nicht erinnern, wie lange man in U-Haft war.“
Denn zu den Repressalien kam auch noch die Ächtung der Öffentlichkeit dazu. „Es hat kaum Leute gegeben, die für dich eingetreten sind. Ein Vater, der sagt, ich werde immer zu meinem Buben stehen – das gab es nicht. Wahrscheinlich sind die Leute in der Schule auch noch verdroschen und am Arbeitsplatz gehänselt worden.“ Weingand hat viele Gerichtsakten gelesen und spricht von ramponierten Biografien: „Du bist gesellschaftlich de facto völlig weg. Du bist ein Verbrecher und ein potenzieller Kinderverzahrer.“
Ein Verurteilter wehrt sich
Michael Woditschka wollte sich damit nicht abfinden. Er spricht von „Diskriminierung vom Staat“ und prozessierte durch alle Instanzen. 2003 wird Österreich schlussendlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. Heute hat Woditschka mit dem Kapitel abgeschlossen. „Mir ist nur wichtig, dass die Menschen da draußen begreifen, dass ein Unrecht passiert ist, was nie hätte passieren sollen.“ Eine Entschädigung hat er schon beantragt. Dass es ihm viele gleichtun, glaubt er nicht. „Da hätte wohl mehr passieren müssen, als den Leuten ein paar Netsch zu geben.“ Hans-Peter Weingand vermisst eine ernstgemeinte Entschuldigung seitens des Gesetzgebers, und nicht nur vom Ministerium. Was es braucht? Weingands Stimme wird lauter. „Die Botschaft zu streuen: Es war NICHT okay.“