In den nächsten 20 Jahren wird sich die Zahl der 80-Jährigen verdoppeln. Das ist eine gesellschaftspolitische Dimension, die in ihren Auswirkungen und ihrer Wucht noch nicht in der Öffentlichkeit angekommen ist. Der erste öffentliche akutgeriatrische Bericht, der der Kleinen Zeitung exklusiv vorliegt, gibt der „wachsenden Population von Patientinnen und Patienten jetzt ein Gesicht“, wie es Peter Mrak, Mediziner und Obmann des Vereins für Qualität in der Geriatrie, ausdrückt.
6000 Fälle, aufrüttelnde Ergebnisse
Mit einem Team, das in Akutgeriatrien in ganz Österreich gearbeitet hat – darunter der Mediziner und Geriatrie-Experte Georg Pinter in Kärnten –, sowie Joanneum Research hat man 6000 akutgeriatrische Fälle erfasst, analysiert und ausgewertet.
Die Kernfragen: Was brauchen alte Menschen, damit sie nach Brüchen, Verletzungen und Erkrankungen wieder auf den Damm kommen? Und welche Antworten lassen sich für die Behandlung alter Menschen daraus ableiten?
Die Akutgeriatrie umfasst ein spezielles, auf alte Menschen ausgerichtetes Programm. Die Menschen werden darin, grob erklärt, in drei Phasen betreut: von der Remobilisierung etc. über die Behandlung mithilfe unterschiedlichen Fachrichtungen bis zum Entlassungsmanagement, damit sie zu Hause nicht unbetreut bleiben.
90 Prozent der Menschen hilft das
Erstens sind die medizinischen Ergebnisse, etwa mit der akutgeriatrischen Behandlung nach einem Sturz, beeindruckend und überraschend zugleich. „Die Akutgeriatrie zielt darauf ab, Patienten wieder funktionell zu stärken und mobil zu machen, damit sie in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren können. Bei 90 Prozent der Personen, die vorher zu Hause gelebt haben, gelingt das mit dem Programm“, nennt das Institut Health für Biomedizinische Forschung und Technologien der Joanneum Research eine erste beeindruckende Zahl.
Pflegebedürftigkeit halbiert sich
Außerdem beweist man mit dem Bericht: Die vollständige Pflegebedürftigkeit von Patientinnen und Patienten halbiert sich dank akutgeriatrischer Behandlungsmethoden. 50 Prozent der Patienten bekomme man wieder „auf die eigenen Beine“, und die Hälfte davon kann wieder selbstständig zu Hause leben. Und über 80 Prozent der Patientinnen und Patienten könne man nach Hause entlassen. „Das ist enorm wichtig. 96 Prozent der Patientinnen und Patienten wollen in kein Heim.“
Diese Tablette würde jeder kaufen
Ein anderes Ergebnis aus der akutgeriatrischen Studie zeigt, dass man mithilfe dieses Behandlungsnetzes das Risiko, ins Altersheim zu kommen, und die Sterblichkeitsrate um 20 Prozent senken kann.
Mrak stellt einen ungewöhnlichen Vergleich an: „Wenn man sich diese Vorteile mit einem Medikament kaufen könnte, würde jeder diese Pille schlucken. So ein gutes Medikament, mit so einer Wirkung, gibt es gar nicht. Aber mit der Akutgeriatrie hätten wir diese Verbesserung in unserer Hand.“ Und: „Volkswirtschaftlich ist das außerdem günstiger. Und trotzdem gibt es nicht in jedem Spital eine Akutgeriatrie“, schüttelt Mrak den Kopf.
Besser, aber günstiger für das System
Längst gibt es Studien, die belegen, dass die 360-Grad-Ausrichtung der Akutgeriatrien den alten Menschen nicht nur medizinisch hilft. Eine Hüft-Operation zum Beispiel kommt dem Gesundheitssystem in der volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung um 5000 Euro günstiger, da weniger Folgekosten entstehen, wenn die Patienten schneller wieder mobil sind.
Wie sich Männer und Frauen unterscheiden
Außerdem sind im Bericht teils extreme Unterschiede in den Krankheitsbildern und deren Auswirkungen zwischen den Geschlechtern zu erkennen. Bei Frauen sind etwa Depression mit Sehstörungen, Schwindel, Kommunikations- und Hörstörung verknüpft, bei den Männern signifikant mit Inkontinenz. Frauen klagen mehr über Schmerzen als Männer. Männer werden nicht so schnell gesund und sind nicht so behandlungstolerabel wie Frauen. „Das Komplikationsrisiko ist höher, wahrscheinlich tun Männer nicht immer das, was man ihnen sagt und melden sich zu spät mit Symptomen“, so Mrak.
Die Lehren für die Zukunft
Die Lehren aus dem Bericht: Das Versorgungssystem müsse neu aufgesetzt werden, kein Spital, keine Geriatrie wird die wachsenden Patientenzahlen bewältigen können. Bereits heute gibt es Ideen, wie man mithilfe mobiler Einsatzteams und Telemedizin „das Spital nach Hause bringt“, damit man den Menschen, dort hilft, wo sie am liebsten sind. „Das ist jetzt unsere Aufgabe“, betont Mrak.