Kurz vor Mitternacht, Tobias Messerer steht allein auf dem Sportplatz in Lichtenau im Waldviertel. Neben ihm der Traktor, mit dem er hergefahren ist. Auf dem Kotflügel hat der 16-Jährige sein Handy abgestellt, die Kamera auf ihn und den riesigen Böller gerichtet, den „No. 1 Supersize“ mit 200 Gramm Blitzknallsatz, den er sich extra für Silvester aufgehoben hat. „So, den zerreißt’s gleich. Jetzt geh’ ich’s an“, sagt der Jugendliche. Dann ein Knall, das Bild verwackelt stark, da sind gelbe und rote Funken, kurz darauf nichts mehr.
Das, was geschieht, ist schwer zu fassen. Der Böller mit der Sprengkraft einer Granate explodiert in der Hand des 16-Jährigen. „Es hat mich auf den Boden geworfen. Ich hab’ gewusst, da ist jetzt etwas Arges mit meinem Körper passiert. Ich habe keine Schmerzen gehabt, aber so ein Kribbeln. Atmen hab’ ich auch nicht mehr gut können.“ Tobias krabbelt instinktiv in Richtung Straße. Er schreit um Hilfe.
Das erste Wunder in dieser Nacht hat die Gestalt einer Frau. Hätte ihr Kind sie nicht hierher gezerrt, im Dunkeln um Mitternacht zum Feuerwerke schauen, wäre Tobias verloren gewesen. Die Rettungskräfte kommen, Tobias hat den ersten Herzstillstand um 0.29 Uhr. Zwei weitere im Rettungshubschrauber. Es braucht zwei Minuten, dann 36 Sekunden, um ihn zurückzuholen. Das AKH in Wien ist voll, also geht es nach St. Pölten. Wieder genau das, was passieren muss: St. Pölten ist näher, zehn Minuten länger und Tobias hätte nicht überlebt, weiß er heute. Wäre auch nur eine Kleinigkeit nicht exakt so gelaufen, wie sie ist, wäre der Bursche tot.
Im Video erzählt Tobias:
Absolute Lebensgefahr
Herzchirurg Peter Bergmann hat damals Bereitschaftsdienst. Er bekommt einen Anruf von seiner Kollegin im Uniklinikum: „16-jähriger Patient im Schockraum, schon mehrmals reanimiert.“ Die Familie von Tobias wird benachrichtigt. „Wir waren im Skiurlaub“, sagt Mutter Birgit. „Ich erinnere mich nur, dass ich zu brüllen angefangen hab‘: Mein Kind! Mein Kind! Außer Panik und Angst fühlt man nichts.“
Tobias fehlt der rechte Unterarm. Sein Auge ist verletzt, ein paar seiner Rippen sind zerborsten, er hat „faustgroße Öffnungen im Brustkorb mit Blick auf die Lunge“, beschreibt Bergmann. Doch es sind nicht die äußeren Verletzungen, die „absolute Lebensgefahr“ bedeuten. Tobias hat es buchstäblich das Herz zerfetzt: In der Scheidewand zwischen den beiden Herzkammern klafft ein mehr als vier Zentimeter großes Loch, das Herz pumpt das Blut nicht dorthin, wo es hinsoll, sondern belastet die ohnehin schwer verletzte Lunge damit.
Sechs Stunden lang wird Tobias am Herzen operiert. „Die Wahrscheinlichkeit, dass man das nicht überlebt, ist wesentlich größer“, sagt Bergmann. „Weltweit gibt es keinen dokumentierten Fall, bei dem der Patient das überstanden hat.“ So etwas erlebe man als Chirurg nur einmal. Bergmann betont aber: „Ich war nur ein Teil vom Radl.“ Ein Teil von einem „eingespielten Team“. Die Rettungskette funktioniert perfekt, die Ärztinnen und Pfleger geben alles. Und es glückt.
Tobias wird ins künstliche Koma versetzt. Er hat Albträume. Sein Unterbewusstsein schnappt auf, was neben seinem Bett geredet wird. „Dass ich ausschaue, wie ein Kriegsverletzter. Also habe ich geträumt, dass ich im Wald mit jemandem kämpfe. Mir wurde ins Auge gestochen, meine rechte Hand hat geblutet.“ Am 21. Tag nach dem Unfall kommt er zu sich, ihm wird erklärt, was passiert ist. „Natürlich war das sehr schwer für mich.“
Böller illegal gekauft
Die Böller hat Tobias mit seinen Freunden illegal in Tschechien gekauft. Zu fünft sind sie vor dem Supermarkt zufällig auf den Standl mit den Feuerwerkskörpern gestoßen, nach einem Ausweis wurden sie nicht gefragt. „Die ersten Böller haben wir gleich einmal gezündet, da ist nichts passiert“, erinnert sich der heute 17-Jährige.
Ein Jahr später hat er um die 30 Operationen hinter sich, eine Armprothese und ein Kunstharzauge. „Ich hab‘ das alles gut weggesteckt.“ Er macht eine Lehre zum Maurer, fährt gern Rad und Ski, auch einhändig Kart fahren kann er schon. Seine Freunde hat der Unfall „gscheit getroffen“, sie haben Böllern abgeschworen.
Tobias teilt das Video von jener Silvesternacht in den sozialen Medien. Um abzuschrecken. Er will aufklären und appellieren: „Lasst das mit dem Schießen. Und wenn, dann kauft nur die österreichischen Produkte.“ In Wien, Niederösterreich und Oberösterreich kommt es Jahr für Jahr zu besonders vielen Böllerunfällen, wegen der Nähe zu Tschechien gelangt man leicht an illegale, hochgefährliche pyrotechnische Gegenstände. Während Tobias letzte Silvesternacht großes Glück hatte, starben zwei 18-Jährige. „Ich wünsche mit heuer ein böllerunfallfreies Silvester“, sagt Tobias. Er wird den Jahreswechsel entweder mit seiner Familie oder mit seinen Freunden verbringen – „aber jedenfalls ohne Böller“.