Domi öffnet seine Wohnungstüre, zieht die rot-weißen Vorhänge am Fenster zurück, zeigt auf einen der zwei Sessel an seinem Tisch mit dem kleinen goldenen Kunststoff-Weihnachtsbaum darauf. Der 30-Jährige wirkt ruhig. Hier hat er seinen Platz gefunden, das ist sein Zuhause. Lange genug hat er keines gehabt.
Domi möchte seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Der gebürtige Wiener hatte alles andere als einen leichten Start ins Leben. Er ist 15 Jahre alt, als er wegen einer psychischen Erkrankung von der Wohnung der Eltern in eine Einrichtung kommt. Domi verliert den Boden unter seinen Füßen und das vertraute Dach über dem Kopf. Über diese Zeit redet der junge Mann nicht gern, er schaut dann zu Boden, antwortet einsilbig.
Mit seinem 18. Geburtstag scheint es bergauf zu gehen, Domi wird gesund geschrieben, fängt einen Gärtnerkurs an, bekommt eine Gemeindewohnung. Kurz sind da geregelte Bahnen, kurz ist da Struktur. Doch die Krankheit nimmt ihn wieder ein, er kann keine Termine einhalten, es dauert nicht lange, bis man ihm die eigenen vier Wände wieder wegnimmt.
Domi landet endgültig auf der Straße. Wie „in Trance“ versucht er zu überleben. „Man denkt die ganze Zeit an Dinge wie: Wo ist die nächste Toilette? Wo das nächste Schwimmbad, in dem ich vielleicht duschen kann? Wo schlafe ich heute, wie erfriere ich nicht? Es ist urviel Strategie. Man bekommt einen anderen Blick auf die Straße. Alles ist unangenehm, schiach und kalt. Man kann nirgends richtig hin.“ Domi pendelt von Notschlafstelle zu Notschlafstelle, von Schutzraum zu Schutzraum, von Krisenunterkunft zu Krisenunterkunft. Gleichzeitig kämpft er mit seiner Psyche: „Es hat mit meinem Kopf etwas nicht gestimmt. Und wenn der Kopf sich nicht wohlfühlt, dann wird alles zerfressen.“ Er deutet auf seine Brust, seinen Bauch. Heute hat er eine Diagnose: Paranoia und Schizophrenie.
Junge Menschen ohne Hilfe
Domi ist damals alleine. Durch alle Raster gefallen. So wie rund 4000 junge Wohnungslose zwischen 18 und 30 Jahren in Wien. Sie bilden ein Drittel aller Menschen ohne Obdach in der Bundeshauptstadt. Mit diesen Zahlen schlug vor Kurzem der Verband der Wiener Wohnungslosenhilfe Alarm. Gerade jetzt im Winter wird das Leben auf der Straße ein Kampf ums Überleben. „Das sind junge Menschen, die mitten in der Entwicklung sind. Sie sind in einer Phase, in der es sowieso schwer ist, sich zu orientieren, in der jeder Unterstützung braucht. Junge Wohnungslose bekommen sie aber nicht. Sie haben kein soziales Netz, niemand begleitet sie“, sagt Roland Skowronek, der mit der Heilsarmee Teil des Verbands ist.
Den einen Grund dafür, warum Menschen auf der Straße landen, gibt es nicht. „Oft gibt es Brüche in der Biographie, Eltern, die überfordert sind, oder fehlende Netzwerke.“ Bis zur Volljährigkeit kümmert sich in der Regel die Jugendhilfe um Kinder, die nicht bei ihren Familien bleiben können. Doch dann endet die Betreuungspflicht in Österreich und die Gefahr, in die Wohnungslosigkeit zu rutschen, ist groß, weiß Skowronek. Er ist seit 30 Jahren bei der Heilsarmee und gelernter Sozialarbeiter. „Viele dieser jungen Erwachsenen haben noch nie Normalität erlebt. Für sie war ihr ganzes bisheriges Leben Krise. Dann müssen sie mit 18 raus, mit wenig oder gar keinem Ersparten. Wie soll das funktionieren?“ Beim Verband fordert man, dass junge Menschen bis 24 Jahre betreut werden können. Generell brauche es mehr individuelle Hilfsangebote, die sich gezielt an Junge richten. Bei den Trägern der Wohnungslosenhilfe mangele es an Ressourcen und Notschlafplätzen. Zumal die Teuerung immer mehr in die Wohnungslosigkeit drängt. Oft gehen mit dem Leben auf der Straße Suchtverhalten und psychische Erkrankungen einher, sagt Skowronek. Viele kratzen nie die Kurve.
Gemeinschaft mit Fußballspielen und Gottesdiensten
Für Domi hat sich mit dem 13. März 2018 alles geändert. Das Datum hat er sich ganz genau gemerkt. Er ist da in ein Haus der Heilsarmee eingezogen. Mehr als fünf Jahre lebt er jetzt „in der besten Wohnung“, wie er sie nennt. Ein Zimmer hat sie, einen eigenen Kühlschrank, Toilette, Dusche und Küche. Es wirkt ein bisschen so, als ob Domi es selbst kaum glauben kann, während er aufzählt, was er jetzt alles für sich allein hat.
Vor allem ist da das Gefühl von Sicherheit. „Das erste Mal seit 12 Jahren fühle ich mich zu Hause, da kann ich mich beruhigen.“ Ein Betreuer und ein Psychiater begleiten ihn, sonst ist er eher „Einzelgänger“. Aber montags trifft man sich zum Fußballspielen, es gibt Gottesdienste und eine Werkstatt, in der die Hausbewohner Fahrräder reparieren. Domi trainiert gern mit seinen Hanteln, geht Joggen oder fährt Fahrrad rund um die Großfeldsiedlung. Über seinem Bett hängt ein Fan-Schal von SK Rapid.
Der 30-Jährige wünscht sich, dass es mehr von solchen betreuten Wohnungen für junge Leute gibt. „Nicht nur übergangsmäßige Notstellen, sondern etwas Richtiges, Langfristiges braucht es. Nur so kann man das Heimatgefühl zurückbekommen. Das verliert man, wenn man überall fremd ist.“
Wenn er seine Krankheit im Griff hat, möchte Domi als Elektriker oder Mechaniker arbeiten. „Dann kann ich anderen helfen.“ Seit einiger Zeit hat er wieder Kontakt zu seinen Eltern, seine Mutter besucht ihn jedes Wochenende. Weihnachten wird er bei ihr und dem Rest der Familie verbringen. Am meisten freut er sich darauf, die selbst gekauften Geschenke zu übergeben.