Als kleiner Bub im steirischen Bergdorf hatte Christian Mayer zwei Zuckerlomas. Da war die eine, die in der Lade unter ihrem Telefon stets die Dose mit dem grünen Bären und den kräuterreichen Hustinetten darin aufbewahrte. Und die andere, aus deren Handtasche immer ein minzig-schokoladiges Firn auftauchte - beim Enkel nicht unbedingt beliebt, „aber bevor man gar nichts zwischen Zunge und Gaumen bekommt“.
Etwa 40 Jahre später, Großstadt, genauer: erster Wiener Gemeindebezirk, Führrichgasse 3. Christian Mayer gießt langsam 12 Kilogramm heißen, flüssigen Zucker aus einem großen silbernen Topf auf kalten Granit. Der kleine Bub von damals lebt den Traum aller Kinder: Er stellt jetzt seine eigenen Zuckerl her. Jeden Tag tausende verschiedene Sorten: Seidenzuckerl, bunte Fruchtgelees und harte Drops.
Geschmack von damals
Und bringt damit nicht nur die Augen der Kleinen zum Leuchten. Die Älteren zieht es zurück in ihre Vergangenheit. „Sie sagen dann: Ma die Seidenzuckerln, die habe ich das letzte Mal vor 60 Jahren gegessen“, erzählt Christian Mayer. Denn die Süßwaren, die er in seiner Zuckerlwerkstatt zaubert, waren über Jahrzehnte in Österreich von der Bildfläche verschwunden. So wie auch das Handwerk der Zuckerlmacherinnen und -macher.
Das haben Christian Mayer und seine Frau Maria Scholz vor zehn Jahren auf die harte Tour erfahren müssen. Der Musiker und die Juristin entdeckten im Schwedenurlaub „diese klitzekleine Mini-Zuckerl-Manufaktur auf 20 Quadratmetern“ und kurzerhand war der Entschluss gefasst, sich selbst an dem klebrigen Geschäft zu versuchen. Doch in Österreich war darüber nichts zu finden. „Das Handwerk, das wir machen wollten, war komplett ausgestorben“, erinnert sich Mayer, während er dem Zucker beim Abkühlen zuschaut. Es duftet nach Rum und Vanille. Aus 140 Grad müssen um die 60 werden. Dann erst kann die zähe Masse am Haken gezogen werden.
Um 1900 herum war Wien die Weltstadt des Zuckerls. Von hier aus wurde die ganze Welt beliefert. Dann kamen die Kriege und damit das Leid und die Armut. Nach dem Zweiten Weltkrieg dachte keiner mehr an aufwendige, zuckrige Millimeterarbeit. Alles musste billig und maschinell fertigbar sein.
Uraltes Handwerk
Christian Mayer und Maria Scholz mussten sich also erst einmal auf die Spuren des Zuckerlmachens begeben. In Deutschland und Spanien recherchierten sie, bevor sie im Oktober 2013 ihre kleine Werkstatt eröffneten. Erst von dem Linzer Konditor und Zuckerlmacher Max Fellög lernte Christian Mayer dann das Handwerk richtig. Der 92-Jährige zeigte ihm mit seinen 40 Jahren Erfahrung in seiner Küche zum Beispiel, wie 256 Zuckerschichten in ein Seidenzuckerl hineinkommen.
Jetzt bildet Christian Mayer als einer der Letzten seiner Zunft in Österreich den Nachwuchs aus. Zum Beispiel Natalie. Die junge gelernte Konditorin wiegt die Zuckermasse ab. Nur nach Gespür hat sie die richtige Menge - 1670 Kilo - erwischt. Sie knetet den zähen Zucker mit viel Muskelkraft und formt ihn sorgfältig zu länglichen, dreieckigen Bändern. Dann legt sie die elf Teile so zu einer Wurst zusammen, dass eine geometrische Form im Durchschnitt zu erkennen ist. Einmal gerollt und abgehackt werden daraus 8000 Stück der feinsten Seidenzuckerl mit Stern in der Mitte. Sie gehören zur Weihnachts-Edition. Genauso wie ein Lebkuchenmann, dessen millimetergenauen, fitzeligen Zusammenbau per Hand man sich nur ansatzweise vorstellen kann. Eigene Baupläne gibt es für die verschiedenen Motive. „Das alles lernt man in der Berufsschule nicht“, erzählt Natalie. „Das kann man nur mit der Zeit fühlen und spüren.“
24.000 Kilo Süßwaren pro Jahr
Seit vier Jahren ist sie in der Zuckerlwerkstatt. Und damit eine von 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an mittlerweile vier Standorten in Wien und Salzburg. 24.000 Kilo Süßwaren pro Jahr produzieren Mayer und sein Team. Längst gehören sie zur Weltspitze, haben sogar in Zusammenarbeit mit Fritz Heller die alten „Heller“-Zuckerln wiederbelebt.
So ist die süße Tradition nach Wien zurückgekehrt. Christian Mayer hat vor, sie immer weiterzutransportieren, mit dem Handwerk Kindheitserinnerungen und Nostalgie zu wecken. Gerade erst hat er ein Buch über Kunst und Geschichte des Zuckerls verfasst. Wichtigstes Mittel, um die alte Technik nicht aussterben zu lassen, bleiben aber die Führungen in der Zuckerlwerkstatt. Wenn sich Wienerinnen und Touristen die Nase an der Scheibe platt drücken und fasziniert beobachten, wie die kleine Süßigkeit entsteht, dann beschleicht Christian Mayer wohl so ein ähnliches Gefühl wie wenn ein Zuckerl auf der Zunge zergeht.