In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zwingen SS-Männer David Herzog, den Landesrabbiner für Steiermark und Kärnten, aus seiner Wohnung in der Radetzkystraße, treiben ihn durch die Straßen zur Zeremonienhalle des jüdischen Friedhofs in Wetzelsdorf. Herzog, zwei Tage zuvor 69 Jahre alt geworden, wird von den Nazipeinigern verprügelt, in die Mur geworfen, schwer verletzt liegen gelassen. Die Zeremonienhalle steht in Brand. Auch die Synagoge an der Mur, der Platz davor trägt heute den Namen von David Herzog. Nach Augenzeugenberichten wirft Julius Kaspar, der kommissarische Chef der Grazer Stadtverwaltung und wenige Monate später Oberbürgermeister, die erste brennende Fackel auf die Synagoge.

In sämtlichen Städten des nationalsozialistischen Deutschen Reiches fackeln in dieser Nacht braune Horden Synagogen, jüdische Zeremonienhallen ab, demolieren jüdische Geschäfte und Wohnungen, sie zerren jüdische Bürger aus ihren Wohnungen, quälen sie, fügen ihnen schwerste Verletzungen zu, einige Hundert werden ermordet. Die Nazis bezeichnen den Terror als „Volkszorn“, der sich spontan entladen hätte. Tatsächlich aber ist dieser Novemberpogrom von höchster Stelle geplant und gelenkt. Von Propagandaminister Joseph Goebbels.

Attentat auf Botschaftssekretär

Als Anlass nimmt man das Attentat, das Herschel Grynszpan am 7. November in Paris auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath verübte. Der jüdische 17-Jährige mit polnischem Pass wuchs in Hannover auf, verließ Deutschland aber unter dem Druck der antisemitischen Ausgrenzungen 1936 und lebte bei einem Onkel in Paris. Seine nach wie vor in Hannover lebenden Eltern und Geschwister werden aus der Stadt gezwungen, man nimmt ihnen alles Hab und Gut, deportiert zur polnischen Grenze, wo sie zwischen polnischer und deutscher Grenze tagelang hilflos herumirren, ehe die Polen sie ins Land lassen und in ein Lager stecken. Mit zwei Schüssen trifft Grynszpan in der Botschaft Ernst vom Rath und verletzt ihn schwer.

Am Tag darauf, am 8. November, begehen die Nationalsozialisten in München ihr alljährliches Gedenken an den misslungenen Putsch im Jahr 1922. Reichskanzler Adolf Hitler schickt noch seine Ärzte nach Paris, der Botschaftssekretär erliegt aber am 9. November seinen Verletzungen. Die Nazis beginnen das Attentat propagandistisch aufzubauschen, vom Rath erhält später ein Staatsbegräbnis. In der Nacht des 9. November zieht der braune Mob los. Gelenkt von Chefpropagandist Joseph Goebbels, der dazu vor allem die SA, die braune Sturmabteilung, mobilisierte und losschickte.

Arisierungen

Das Naziregime hatte gleich nach der Machtergreifung Ende Jänner 1933 begonnen, die jüdische Bürgerschaft Schritt für Schritt zu entrechten. Sie durften nicht mehr im öffentlichen Dienst beruflich tätig sein, man nahm ihnen ihr Eigentum, „arisierte“ jüdische Betriebe.

Man erließ 1934 die „Nürnberger Rassengesetze“, das Namensgesetz markierte Juden mit Zusatznamen, Männer mussten nun auch Israel heißen, Frauen Sara. Zur besseren Kenntlichmachung, ausgeheckt von einem gewissen Hans Globke, Jurist im Reichsinnenministerium in Berlin, der nach 1945 in Bonn Kanzleichef von Bundeskanzler Konrad Adenauer wird, 1956 dann den zweithöchsten Orden der Republik Österreich erhält – der ihm nach einer Neuordnung des Ehrenzeichengesetzes posthum aberkannt werden soll.

Die Entrechtung und Ausgrenzung jüdischer Menschen ging im Nazistaat Schritt für Schritt voran, gewalttätige Ausschreitungen unterblieben großteils. In Österreich zwang man Juden in den Tagen nach dem Anschluss, die Straßen mit den Parolen des Schuschnigg-Regimes aufzuwaschen. Das von Alfred Hrdlicka geschaffene Denkmal des „straßenwaschenden Juden“ gegenüber der Albertina erinnert daran. Nun aber lässt der Antisemitismus im Großdeutschen braunen Reich erstmals großflächig seiner Brutalität freien Lauf.

Verfolgungen in Kärnten

In Kärnten wohnen zu dieser Zeit rund 400 jüdische Bürgerinnen und Bürger. In Klagenfurt und Villach halten die Nazis Kundgebungen ab und hetzen die Menschen auf. Der Mob, begleitet von Applaus aus der Bevölkerung, zerstört in der Nacht und am nächsten Tag Geschäfte und Wohnungen, schwere Ausschreitungen werden auch aus Feldkirchen berichtet. Das Klagenfurter Bethaus in der Platzgasse wurde von der braunen Bande vernichtet. Die Nazis pferchen jüdische Männer für Wochen in das Konzentrationslager Dachau. Anfang Jänner 1939 meldet die für die „Arisierung“ zuständige „Vermögensverkehrsstelle“, Kärnten sei der erste Gau der Ostmark, in dem die „Entjudung vollständig durchgeführt“ worden sei.

Gewalt in der Steiermark

Bis zu 2500 Jüdinnen und Juden leben um 1938 in der Steiermark. Die Gewalt betrifft nicht nur jüdische Einrichtungen in Graz, sondern auch in Bad Gleichenberg, Leoben, Judenburg und Knittelfeld. Nirgendwo greifen Polizei oder Feuerwehr ein, um Juden und deren Eigentum zu schützen. Geschundenen, verletzten jüdischen Bürgern verweigern öffentliche Krankenhäuser die medizinische Hilfe. 350 steirische Juden werden nach Dachau gebracht. David Herzog gelingt die Flucht nach England. 1940 erklärt Oberbürgermeister Kaspar, Graz, mit dem Titel „Stadt der Volkserhebung“ bedacht, sei eine judenfreie Stadt.

Die Novemberpogrome 1938, die teils bis 13. November andauerten, kosteten Hunderte Juden das Leben, 1400 Synagogen und Bethäuser sowie Tausende Geschäfte zerstörte der Nazimob. Für diese grausige Nacht auf den 10. November fand sich schnell die Bezeichnung „Reichskristallnacht“, weil so viel Glas zu Bruch ging. Hermann Göring, zweiter Mann hinter Hitler, Luftfahrtminister, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Beauftragter für den Vierjahresplan, missfällt diese von Goebbels initiierte Aktion, nicht, weil Juden misshandelt oder getötet wurden, sondern des wirtschaftlichen Schadens wegen. „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet“, ist von Göring überliefert.

Glasschäden zulasten der jüdischen Gemeinden

Allein die Glasschäden wurden auf rund 6 Millionen Reichsmark geschätzt. Dafür aufkommen müssen die geschädigten jüdischen Gemeinden selbst – das Naziregime auferlegt ihnen eine Buße von 1,2 Milliarden Reichsmark. Nach dem Ende der Hitlerdiktatur kommt es wegen der Novemberpogrome zu keiner einzigen Verurteilung, man kann keine Verantwortlichen und Mittäter feststellen. Oberbürgermeister Kaspar wird in den letzten Kriegstagen erschlagen in einem Wald aufgefunden. Am 9. November 2000 wurde die wieder errichtete Grazer Synagoge in Anwesenheit von Bundespräsident Thomas Klestil übergeben. Rund 9600 Ziegel der auf den Tag vor 62 Jahren zerstörten Synagoge fanden für den Neubau Verwendung.