„Herr Steinbauer“, sagt eine Stimme am Telefon. „Haben Sie noch einen Kinderwunsch?“ Siegi Steinbauer bekommt nur ein „Ja“ heraus. Er parkt seinen Lkw am Straßenrand. „Ihre Tochter wird in ein, zwei Tagen auf die Welt kommen“, tönt es aus dem Hörer. Stille. „Herr Steinbauer, sind Sie noch da?“ „Ja“, sagt, der 41-Jährige. „Ich habe gerade einen Lotto-Sechser bekommen, ich brauch ein bisserl.“

Seit Jahren stehen der Grazer und seine Frau Christa auf der Adoptionsliste. Doch jetzt muss alles schnell gehen: „Es war ein Drunter und Drüber“, erinnert sich Frau Steinbauer. Alle haben geholfen – die Nachbarin kramte Strampler am Dachboden hervor.

Es ist ein sonniger Tag im Juni, als Tanja geboren wird. Zwei Tage später halten die Steinbauers ihre Tochter im Arm. Während sie ihr das erste Fläschchen geben, hat Tanjas leibliche Mutter das Krankenhaus schon wieder verlassen. Sie wird das große Fragezeichen in Tanjas Leben bleiben. Denn das Mädchen ist das Ergebnis einer anonymen Geburt. Eine Option, die Müttern seit 2001 offensteht. In der Hoffnung, dass sie in Notsituationen ihre Kinder nicht gefährden, allein lassen oder im schlimmsten Fall töten.

Videoreportage: Anonyme Geburt kann Leben retten

Tanja spürt die Entwurzelung früh – doch sie kann sie nicht benennen. Schon als kleines Kind fragt sie: „Mama, war ich in deinem Bauch?“ Die Steinbauers bleiben bei der Wahrheit. Damit beginnt ein jahrelanger Kampf, erinnert sich Mutter Christa (54). Zunächst will Tanja es nicht glauben: „Alles gelogen“, wirft sie ihren Eltern vor. Irgendwann sickert dann die Erkenntnis. Sprechen Kinder in der Schule über ihrer Eltern, kann Tanja nicht mitreden: Wer sieht wem ähnlich? Ihre Herkunft: ein großes Rätsel.

Hund Trixi hört Tanja aufs Wort
Hund Trixi hört Tanja aufs Wort © Anna Zweidick/Lukas Kohlmaier

„Mich will keiner haben“

Tanja fühlt sich zurückgewiesen. „Ich hatte nur dieses Unverständnis, diese Wut. Weil ich nicht verstanden habe, warum ich weggegeben wurde. Ich habe nichts Positives daran gesehen. Nur: Mich will keiner haben“, sagt die heute 17-Jährige.
Die Situation spitzt sich zu. Tanjas Ärger schlägt in Aggression um – verbal wie körperlich. Das bekommt besonders Mutter Christa zu spüren: „Manchmal hat sie gesagt: Die ‚echte‘ Mama ist viel besser als du.“ Die Eltern fühlen sich überfordert, das zehrt auch an der Ehe: „Wir hatten Situationen, wo wir uns angeschaut haben und meinten: Um Gottes willen, was machen wir jetzt?“, erinnert sich Siegi Steinbauer (58).

Tanja wächst zur Jugendlichen heran – der Leidensdruck ist groß. Die Eltern können ihr nicht helfen – zu viel spielt sich verborgen im Inneren der jungen Frau ab. „Es gab leider auch keine Möglichkeit, dass sich Tanja mit anderen Adoptivkindern austauschen hätte können“, sagt Christa. Die Familie sucht Hilfe bei einer Psychotherapeutin. Heute wissen sie: Dass Tanja regelmäßig ausrastet, waren Hilferufe. Sie hatte so viele Fragen, die ihr niemand beantworten konnte. Auch deshalb, weil sie in Eigenregie nichts über ihre leibliche Mutter herausfinden kann. Das ist üblich bei einer anonymen Geburt – zum Schutz der Gebärenden.

„Das war der Schlussstrich“

Kurz gibt es Hoffnung: ein Brief, der beim Jugendamt für Tanja hinterlegt wurde. Die Schülerin hofft auf persönliche Zeilen ihrer Mutter. Doch vor Ort bekommt sie bloß eine dünne Mappe in die Hand gedrückt. Darin: Nur einige Informationen aus dem Krankenhaus. Tanjas leibliche Mutter hatte schwarz gefärbte Haare, war zwischen 25 und 30 Jahre alt, hatte bereits ein Kind und war Hausfrau. Der Grund der Adoption: Schutz vor der eigenen Familie. „Das war der Schlussstrich“, sagt Tanja. „Der Moment, wo ich gesagt habe: Mehr habe ich nicht, mehr werde ich auch nie haben – solange, bis meine Mutter nicht selbst anfängt, nach mir zu suchen.“

Expertin: „Sie befinden sich in Ausnahmesituationen“

Und das tun Mütter wie die von Tanja in den seltensten Fällen. Weil es nahezu unmöglich ist, sagt Gerhild Krenn-Gugl. Sie arbeitet bei der Kontaktstelle Anonyme Geburt der Caritas in Graz. Sie ist die Stimme all jener, die ihre Kinder weggeben mussten. Denn öffentlich spricht kaum eine über ihr Schicksal. Zum einen, weil es ein „schambesetztes Thema“ ist. Zum anderen, und das betont die Expertin ausdrücklich, sei es gesellschaftlich anerkannter, dass sich Väter aus der Verantwortung ziehen. „Den Frauen wird das so nicht zugestanden. Übersehen wird, dass Betroffene sehr wohl Verantwortung übernehmen, indem sie ihre Kinder weggeben.“ Es könne jede Frau erwischen. Egal, wie alt. Egal, wie wohlhabend. Eines eint alle: „Sie befinden sich in Ausnahmesituationen.“ Die Gründe sind vielfältig: Krankheit, Gewalt in der Beziehung, Zukunftsängste, finanzielle Not. „Ein Kind großzuziehen, scheint unvorstellbar.“ Gerhild Krenn-Gugl hat große Achtung vor ihren Klientinnen: „Da braucht es viel menschliche Größe, sich zuzugestehen, dass ein anderer Platz der bessere ist als der, den die Frau gerade dem Kind bieten kann.“ Die meisten sagen, eine anonyme Geburt sei die schwierigste Entscheidung ihres Lebens.

Gerhild Krenn-Gugl begleitet Mütter | Gerhild Krenn-Gugl begleitet Mütter
Gerhild Krenn-Gugl begleitet Mütter
| Gerhild Krenn-Gugl begleitet Mütter © MM Kleinsasser 

Genau deshalb sind die Steinbauers der leiblichen Mutter ihrer Tochter dankbar: „Ich habe die ‚Bauchmama’ nie schlecht gemacht. Ohne sie hätten wir die Tanja nicht“, sagt Christa.

Anonyme Geburt: Braucht es mehr Begleitung?

Mit dem Jugendamt geht die Familie allerdings härter ins Gericht. Sie hätten mehr Unterstützung von außen gebraucht: „Die Eltern stehen ganz alleine da“, findet Tanja. Deshalb engagiert sich die 17-Jährige mittlerweile auch in einer Selbsthilfegruppe. Sie erzählt von einer Adoptionsmutter, die sich ihr anvertraut hat. Wie das mit den anderen Leuten sei, wollte sie wissen: „Nehmen die Abstand von meinem Kind?“, erinnert sich Tanja. „Es hat mich gefreut, dass ich weiterhelfen konnte.“ Doch es sei nicht allein die Aufgabe von Individuen wie ihr, zu helfen. Tanja wünscht sich: Dass Eltern wie Kinder von Geburt an begleitet werden.

Gerhild Krenn-Gugl pflichtet ihr bei und fordert auch mehr Hilfe für die leiblichen Mütter: „Es braucht geschützte, niederschwellige Räume“, sagt sie. Aus Gesprächen mit Betroffenen weiß sie auch, dass die Sorge der leiblichen Mütter ein Leben lang bestehen bleibt: „Eine kurze Rückmeldung, dass das Kind gut ‚gelandet‘ ist, würde den Frauen bei der Bewältigung helfen.“ Diese Möglichkeit gibt es derzeit allerdings nicht.

Die Steinbauers sind stolz auf ihre Tochter. Sie sei sehr charakterstark. „Eine tolle junge Frau eben“, sagt Christa. Und Tanja erkennt mittlerweile einige Wesenszüge ihrer Eltern in sich selbst. Der Ordnungssinn ihrer Mutter und die Zielstrebigkeit ihres Vaters zum Beispiel. Dem Samthandschuh der Gesellschaft begegnet sie mit Offenheit: „Ich sage immer von Anfang an: Ihr könnt mich alles fragen, das ist kein Problem.“